Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
Vom Netzwerk:
schließlich bereit, in Berlin anzurufen. Huppenkothen, Thomas’ Vorgesetzter, war nicht zu erreichen, aber einer seiner Stellvertreter, der unsere Identität sogleich bestätigte. Daraufhin veränderte sich die Haltung des Majors und des Gestapo-Mannes augenblicklich, sie sprachen uns mit unseren Dienstgraden an und schenkten uns Schnaps ein. Der Gestapo-Beamte verließ den Raum und sicherte uns zu, für eine Fahrgelegenheit nach Berlin zu sorgen; in der Zwischenzeit bot uns der Major Zigaretten an und bat uns, auf einer Bank im Flur Platz zu nehmen. Wir rauchten, sagten nichts: Seit Beginn unseres Marsches hatten wir fast gar nicht geraucht, die Zigaretten stiegen uns zu Kopf. Ein Kalenderauf dem Schreibtisch des Majors hatte den 21. März angezeigt, unser Abenteuer hatte also siebzehn Tage gedauert, was man auch unserem Äußeren ansah: Unsere Gesichter waren von Bärten überwuchert, unsere zerrissenen Uniformen starrten vor Schmutz, wir stanken. Aber wir waren nicht die Ersten, die in einem solchen Zustand angekommen waren, und es schien niemanden zu stören. Thomas, sich gerade haltend, die Beine übereinandergeschlagen, schien sehr zufrieden mit unserem Ausflug zu sein; ich saß eher in mich zusammengesunken, die Beine weit von mir gestreckt, in einer wenig militärischen Haltung; ein geschäftiger Oberst, der, eine Aktentasche unter dem Arm, an uns vorbeieilte, warf mir einen geringschätzigen Blick zu. Ich erkannte ihn sofort, sprang auf und begrüßte ihn herzlich: Es war Osnabrugge, der Brückenzerstörer. Er brauchte eine Weile, um mich zu erkennen, dann riss er die Augen auf: »Obersturmbannführer. Wie sehen Sie denn aus!« Ich berichtete ihm kurz von unserem Unternehmen. »Und Sie? Sprengen Sie jetzt deutsche Brücken?« Er machte ein langes Gesicht: »Leider, ja. Vor zwei Tagen habe ich die Stettiner Brücke in die Luft gejagt, als wir Altdamm und Finkenwalde geräumt haben. Das war schrecklich, die Brücke war voller Gehängter und Fahnenflüchtiger, die die Feldgendarmerie erwischt hatte. Drei hingen auch nach der Sprengung noch dort, ganz frisch, gleich am Anfang der Brücke. Aber«, fuhr er fort, sich wieder fangend, »wir haben nicht alles kaputt gemacht. Die Oder hat vor Stettin fünf Arme, und wir haben beschlossen, nur die letzte Brücke zu zerstören. Das lässt alle Möglichkeiten für den Wiederaufbau offen.« – »Sehr schön«, meinte ich, »Sie denken an die Zukunft, Sie lassen den Kopf nicht hängen.« Mit diesen Worten trennten wir uns: Einige Auffangstellungen weiter im Süden waren noch nicht zurückgenommen worden, Osnabrugge musste die Sprengungsvorbereitungen beaufsichtigen. Kurz darauf kam der örtliche Gestapo-Mannzurück und ließ uns in ein Fahrzeug mit einem SS-Offizier einsteigen, der auch nach Berlin musste und sich anscheinend nicht im Geringsten an unserem Gestank störte. Der Anblick der Menschen auf der Straße war noch schrecklicher als im Februar: eine nicht abreißende Flut verstörter Flüchtlinge und erschöpfter, geschundener Soldaten, Lastwagen voller Verwundeter, die Reste des Zusammenbruchs. Ich schlief fast augenblicklich ein und musste bei einem Angriff von Schturmowiks geweckt werden, und kaum konnte ich wieder in den Wagen steigen, schlief ich erneut ein.
     
    In Berlin hatten wir einige Mühe, uns zu rechtfertigen, aber weit weniger, als ich befürchtet hatte: Die einfachen Soldaten wurden auf bloßen Verdacht hin umstandslos aufgehängt oder erschossen. Noch bevor er sich rasiert oder gewaschen hatte, suchte Thomas Kaltenbrunner auf, der jetzt in der Kurfürstenstraße residierte, in Eichmanns ehemaliger Dienststelle, einem der letzten noch mehr oder weniger stehenden Gebäude des RSHA. Da ich nicht wusste, wo ich mich zum Rapport melden sollte – sogar Grothmann hatte Berlin verlassen –, ging ich mit ihm. Wir hatten uns auf eine einigermaßen plausible Version geeinigt: Ich hätte meinen Urlaub nutzen wollen, um meine Schwester und ihren Mann in Sicherheit zu bringen, doch Thomas, mitgekommen, um mir zu helfen, und ich seien von der russischen Offensive überrumpelt worden; im Übrigen war Thomas so umsichtig gewesen, sich vor seinem Aufbruch einen dienstlichen Befehl von Huppenkothen geben zu lassen. Kaltenbrunner hörte uns schweigend an, dann entließ er uns kommentarlos und teilte mir mit, dass der Reichsführer, der am Tag zuvor seinen Oberbefehl über die Heeresgruppe Weichsel abgegeben hatte, sich in Hohenlychen befinde. Die Meldung zu

Weitere Kostenlose Bücher