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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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gelichtet, doch infolge der Zerstörung der Personenstandsregister und der Störung des Postbetriebs warteten die meisten derart frei gestellten Männer Wochen auf ihre Einberufung. In der Kurfürstenstraße stellte eine eigens eingerichtete Dienststelle RSHA-Angehörigen, die als kompromittiert galten, falsche Papiere der Wehrmacht oder anderer Organisationen aus. Thomas versorgte sich gleich mit mehreren verschiedenen Identitäten und zeigte sie mir lachend: Ingenieur bei Krupp, Hauptmann der Wehrmacht, Beamter im Landwirtschaftsministerium. Er wollte, dass ich es auch täte, aber ich schob die Entscheidung ständig vor mir her; stattdessen ließ ich mir wieder Soldbuch und SD-Karte als Ersatz für die in Pommern vernichteten Papiere ausstellen. Von Zeit zu Zeit sah ich Eichmann, der sich dort noch immer herumtrieb und sehr niedergeschlagen wirkte. Er war nervös, er wusste, dass er erledigt war, wenn der Feind ihn in die Finger bekam, und fragte sich, was aus ihm werden würde. Seine Familie hatte er an einen sicheren Ort geschickt und wollte zu ihr; eines Tages sah ich ihn auf dem Flur voller Bitterkeit, vermutlich über dieses Thema, mit Blobel sprechen, der ebenfalls ziellos umherlief und nicht wusste, was er tun sollte – fast immer betrunken, streitsüchtig, wütend. Einige Tage zuvor hatte Eichmann den Reichsführer in Hohenlychen aufgesucht und war von dieser Unterredung äußerst deprimiert zurückgekommen; er lud mich auf einen Schnaps in sein Dienstzimmer,damit ich mir seinen Kummer anhörte; er schien mich nach wie vor zu schätzen, fast behandelte er mich als eine Art Vertrauten, ohne dass ich recht begriff, wie ich dazu kam. Schweigend trank ich und ließ ihn sein Herz ausschütten. »Ich verstehe das nicht«, sagte er weinerlich und rückte seine Brille zurecht. »Der Reichsführer hat zu mir gesagt: ›Eichmann, wenn ich noch mal von vorn anfangen müsste, würde ich die Konzentrationslager wie die Engländer organisieren.‹ Das hat er zu mir gesagt. Und er hat hinzugefügt: ›Da habe ich einen Fehler gemacht.‹ Was wollte er damit sagen? Ich verstehe das nicht. Verstehen Sie das? Vielleicht wollte er damit sagen, dass die Lager, ich weiß nicht, eleganter, ästhetischer, gesitteter hätten sein sollen.« Auch ich begriff nicht, was der Reichsführer damit hatte sagen wollen, aber mir war es, ehrlich gesagt, egal. Von Thomas, der sich gleich wieder in seine Intrigen gestürzt hatte, wusste ich, dass Himmler, unter dem Einfluss Schellenbergs und seines finnischen Masseurs Kersten, weiterhin Verhandlungsangebote – wenig durchdachte im Übrigen – an die Adresse der Engländer und Amerikaner richtete: »Schellenberg ist es gelungen, ihn zu der Äußerung zu veranlassen: ›Ich verteidige den Thron. Was nicht zwangsläufig heißt, auch den, der darauf sitzt‹«, erklärte mir Thomas. »Sicher. Sag mir, Thomas, warum bleibst du in Berlin?« Die Russen standen an der Oder, aber jeder wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war. Thomas lächelte: »Schellenberg hat mich gebeten zu bleiben. Um ein Auge auf Kaltenbrunner und vor allem auf Müller zu haben. Die beiden machen, was sie wollen.« Tatsächlich machten alle mehr oder weniger, was sie wollten, allen voran Himmler, Schellenberg, Kammler, der jetzt selbst einen direkten Zugang zum Führer hatte und nicht mehr auf den Reichsführer hörte; Speer, hieß es, fahre kreuz und quer durchs Ruhrgebiet und versuche angesichts des amerikanischen Vormarsches die Zerstörungsbefehle des Führers zu konterkarieren.Die Bevölkerung verlor alle Hoffnung, und Goebbels’ Propaganda konnte daran auch nichts mehr ändern: Zum Trost versprach sie, dass der Führer in seiner großen Weisheit für das deutsche Volk im Falle einer Niederlage einen leichten Tod im Gas vorbereite. Das war natürlich sehr ermutigend, und so sagten böse Zungen: »Was ist ein Feigling? Einer in Berlin, der sich zur Front meldet.« In der zweiten Aprilwoche gaben die Berliner Philharmoniker ein letztes Konzert. Das Programm war, wie es dem Geschmack der Zeit entsprach, scheußlich – Brünnhildes letzte Arie, natürlich die Götterdämmerung und zum Schluss Bruckners Vierte, die »Romantische« –, doch ich ging trotzdem hin. Der Saal war eiskalt, aber unversehrt, die Kronleuchter strahlten in ungebrochenem Glanz, von Weitem sah ich Speer mit Admiral Dönitz in der Ehrenloge; am Ausgang standen uniformierte Hitlerjungen mit Henkelkörben und boten dem Publikum Zyankalikapseln an: Am

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