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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Abend regnete es erneut; und der Iwan feierte Lenins Geburtstag auf seine Art: mit einer verheerenden Artillerie-Orgie.
    Ein öffentlicher Versorgungsdienst nach dem anderen stellte seinen Betrieb ein, das Personal verließ die Stadt. Der Kampfkommandant General Reymann hatte, einen Tag bevor er abgesetzt wurde, an die Funktionäre der NSDAP zweitausend Passierscheine verteilt, die zum Verlassen Berlins berechtigten. Wer nicht das Glück hatte, einen abbekommen zu haben, konnte sich seine Flucht immer noch erkaufen: In der Kurfürstenstraße erklärte mir ein Gestapo-Offizier, dass ein vollständiger Satz Papiere in der Regel für etwa 80 000 Reichsmark zu haben war. Die U-Bahn fuhr bis zum 23. April, die S-Bahn bis zum 25., Ferngespräche waren bis zum 26. möglich (es heißt, ein Russe hätte Goebbels in seinem Büro von Siemensstadt aus erreicht). Kaltenbrunner hatte sich gleich nach dem Führergeburtstag nach Österreich abgesetzt, aber Müller war geblieben, und ich setzte meine Tätigkeit als Verbindungsoffizier für ihn fort. Meist fuhr ich durch den Tiergarten, weil die Straßen südlich der Bendlerstraße, in der Nähe des Landwehrkanals, versperrt waren; inder Neuen Siegesallee hatten die wiederholten Einschläge die Standbilder der Herrscher von Brandenburg und Preußen zerschmettert, Köpfe und Gliedmaßen der Hohenzollern lagen auf der Straße verstreut; nachts schimmerten die weißen Mamortrümmer im Mondlicht. Im OKW, wo sich mittlerweile der Kampfkommandant von Berlin eingerichtet hatte (ein gewisser Käther hatte Reymann abgelöst, zwei Tage später wurde auch Käther entlassen und machte Weidling Platz), musste ich oft Stunden warten, bis ich eine vollkommen unvollständige Auskunft erhielt. Um nicht allzu sehr zu stören, verbrachte ich die Wartezeit bei meinem Fahrer im Auto, von dem Parkplatz unter einem Betonschutzdach im Hof sah ich die aufgeregten, verstörten Offiziere vorbeilaufen, erschöpfte Soldaten, die trödelten, um nicht so bald wieder ins Feuer zurückzumüssen, Hitlerjungen, die, gierig nach Ruhm und Ehre, um Panzerfäuste bettelten, ratlose Volkssturm-Männer, die auf Befehle warteten. Eines Abends, als ich in meinen Taschen nach einer Zigarette suchte, fiel mir Helenes Brief in die Hände, den ich in Hohenlychen eingesteckt und dann vergessen hatte. Ich riss ihn auf und las ihn, während ich rauchte. Es war eine klare, unmissverständliche Liebeserklärung: Sie verstehe meine Haltung nicht, schrieb sie, sie versuche auch nicht, sie zu verstehen, sie wolle einfach wissen, ob ich zu ihr kommen werde, sie fragte mich, ob ich die Absicht hätte, sie zu heiraten. Die Ehrlichkeit und Offenheit dieses Briefes berührten mich; aber es war viel zu spät, und ich warf das zusammengeknüllte Blatt Papier durch das heruntergedrehte Wagenfenster in eine Pfütze.
    Die Schlinge zog sich zusammen. Das Adlon hatte bis auf Weiteres geschlossen; meine einzige Ablenkung bestand darin, in der Kurfürstenstraße Schnaps zu trinken, oder in Wannsee mit Thomas, der mir erheitert von seinen neuesten Intrigen berichtete. Müller fahndete jetzt nach einem Maulwurf: einem feindlichen Agenten, der sich offenbar unter denMitarbeitern eines hohen SS-Würdenträgers befand. Schellenberg sah darin ein Komplott zur Schwächung Himmlers, daher musste Thomas die Entwicklung der Angelegenheit verfolgen. Die Situation geriet zur Farce: Speer, der das Vertrauen des Führers verloren hatte, war zurückgekehrt, er war zwischen den Schturmowiks durchgeschlüpft und hatte seine Maschine auf der Ost-West-Achse gelandet, um wieder Gnade zu finden; Göring, der den Tod seines Herrn und Meisters ein wenig übereilt vorweggenommen hatte, war aller Ämter enthoben und in Bayern in Haft genommen worden; die nüchterneren Vertreter der Führungsspitze, Ribbentrop und die Militärs, verhielten sich still oder setzten sich in Richtung der Amerikaner ab; die unzähligen Selbstmordkandidaten bereiteten ihren großen Abgang liebevoll vor. Unsere Soldaten ließen sich auch weiterhin gewissenhaft umbringen, ein Bataillon der französischen, Division Charlemagne fand Mittel und Wege, am 24. April nach Berlin durchzubrechen und die Division Nordland zu verstärken, und das Verwaltungszentrum des Reichs wurde praktisch nur noch von Finnen, Esten, Holländern und Pariser Taugenichtsen verteidigt. An anderer Stelle behielt man einen kühlen Kopf: Eine gewaltige Armee, so hieß es, sei auf dem Weg, Berlin zu entsetzen und die Russen hinter die

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