Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
Vom Netzwerk:
summarische Justiz gegenüber den Menschen praktizierten, die, vernünftiger als sie, nur leben wollten, manchmal auch gegenüber jenen, die mit alldem nichts zu tun hatten, sondern einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren. Die kleinen Fanatiker der »Leibstandarte« führten die verwundeten Soldaten aus den Kellern, um sie zu exekutieren. Überall verzierten erschöpfte Frontkämpfer der Wehrmacht, frisch einberufene Zivilisten, Kinder von sechzehn Jahren mit violetten Gesichtern Laternenpfähle, Bäume, Brücken, Hochstrecken der S-Bahn, jeden Ort, an dem ein Mensch aufgeknüpft werden konnte, und immer mit den unvermeidlichen Schildern um den Hals: ICH BIN EIN DESERTEUR. Die Berliner verhielten sich fatalistisch: Eh ick mir hängen lasse, jloob ick an ’n Sieg! Ich hatte selbst Probleme mit diesen wild gewordenen Gerechtigkeitsfanatikern, denn ich war viel unterwegs und musste meine Papiere ständig kontrollieren lassen, ich dachte schon daran, eine bewaffnete Eskorte zu meiner Verteidigung mitzunehmen. Gleichzeitig taten mir diese vor Wut und Bitterkeit fast wahnsinnigen Männer beinahe leid; sie waren von einem ohnmächtigen Hass zerfressen, den sie, da sie ihn nicht mehr an dem Feind auslassen konnten, gegen ihre eigenen Leute richteten – wie tollwütige Wölfe, die sich gegenseitig auffressen. In der Kurfürstenstraße hatte sich eines Morgens ein gewisser Gersbach, ein junger Obersturmführer der Gestapo, nicht zum Dienst gemeldet; gut, er hatte keine Arbeit mehr, trotzdem war es aufgefallen; Polizisten hatten ihn sturzbetrunken zu Hause angetroffen; Müller hatte gewartet, bis er ausgenüchtert war, dann hatte er ihn vor den versammelten Offizieren im Hof des Gebäudesdurch Genickschuss hinrichten lassen. Hinterher war der Tote auf den Asphalt geworfen worden, und ein junger SS-Rekrut hatte fast hysterisch das Magazin seiner Maschinenpistole in die Leiche dieses Unglücklichen entleert.
    Die Meldungen, die ich mehrmals pro Tag abzuholen hatte, waren selten gut. Tag für Tag kamen die Sowjets näher, rückten nach Lichtenberg und Pankow vor, nahmen Weißensee ein. Die Flüchtlinge durchquerten die Stadt in langen Kolonnen, viele von ihnen wurden blindlings als Deserteure aufgehängt. Die Beschießung durch die russische Artillerie forderte weitere Opfer: Seit dem Führergeburtstag lag die Stadt in Reichweite ihrer Geschütze. Es war ein sehr schöner Tag gewesen, ein sonniger, milder Freitag, Fliederduft erfüllte die verlassenen Gärten. Hier und da hingen Hakenkreuzfahnen an den Ruinen oder große Plakate von, wie ich hoffte, unfreiwilliger Ironie, wie jener Satz von Goebbels, der die Trümmer des Lützowplatzes beherrschte: DAS DANKEN WIR DEM FÜHRER! So recht von Herzen kam das wahrhaftig nicht. Am Vormittag hatten Engländer und Amerikaner einen ihrer schweren Angriffe geflogen, mehr als tausend Maschinen in zwei Stunden, gefolgt von Mosquitos; als sie verschwunden waren, wurden sie von den Russen abgelöst. Das war sicherlich ein prachtvolles Feuerwerk, doch wussten es nur wenige zu schätzen, auf unserer Seite zumindest. Goebbels versuchte es zu Ehren des Führers mit Sonderzuteilungen, aber selbst das ging schief: Die Artillerie forderte zahlreiche Opfer unter den Schlange stehenden Zivilisten; am nächsten Tag war es trotz des dichten Regens noch schlimmer, eine Granate schlug in eine Menschenmenge ein, die vor Karstadt wartete, der Hermannplatz war mit blutigen Leichen übersät, überall lagen verstümmelte Gliedmaßen herum, Kinder schüttelten schreiend die leblosen Körper ihrer Mütter, ich sah es mit eigenen Augen. Am Sonntag schien strahlend und frühlingshaft die Sonne, dann kamenSchauer, dann schien wieder helles Sonnenlicht auf die nassen Ruinen und Trümmer. Vögel sangen; überall blühten Tulpen und Lilien, Apfel-, Pflaumen- und Kirschbäume und im Tiergarten Rhododendren. Doch diese schönen Blütendüfte konnten nicht den Geruch nach Fäulnis und Ziegeln überdecken, der durch die Straßen zog. Schwerer stehender Rauch verhüllte den Himmel; wenn es regnete, verdichtete sich diese Wolke noch, legte sich den Menschen auf die Brust. Die Straßen waren trotz der Artillerieeinschläge durchaus belebt: Auf den Panzersperren hockten Kinder mit Papierhelmen und schwangen Holzschwerter; ich traf alte Damen, die Kinderwagen voller Ziegelsteine schoben, und als ich den Tiergarten Richtung Zoo-Bunker durchquerte, Soldaten, die eine Herde muhender Kühe vor sich her trieben. Am

Weitere Kostenlose Bücher