Die Wohlgesinnten
ließ die Flüssigkeit in seinem Glas kreisen: »Es versteht sich, dass wir eine Zeitlang verschwinden müssen, untertauchen, bis sichdie Gemüter beruhigt haben. Dann können wir zurückkommen. Das neue Deutschland, wie immer es aussehen mag, wird fähige Leute brauchen.« – »Verschwinden? Wohin? Und wie?« Er sah mich lächelnd an: »Du glaubst, daran hätten wir nicht gedacht? Es gibt Kanäle, in Holland, in der Schweiz, Leute, die bereit sind, uns zu helfen, aus Überzeugung oder um ihres Vorteils willen. Die besten Kanäle sind in Italien. In Rom. Die Kirche lässt ihre Schäfchen nicht im Stich.« Er hob sein Glas, wie um mit mir anzustoßen, und trank. »Schellenberg, auch Wolfie haben zuverlässige Zusagen bekommen. Natürlich wird es nicht leicht sein. Endspiele sind immer heikel.« – »Und dann?« – »Das wird sich zeigen. Südamerika, Sonne, die Pampa, sagt dir das nicht zu? Oder, wenn es dir lieber ist, die Pyramiden. Die Engländer werden abziehen, dann brauchen sie da unten Spezialisten.« Ich schenkte mir nach und trank: »Und wenn Berlin eingekesselt ist? Wie willst du rauskommen? Bleibst du?« – »Ja, ich bleibe. Kaltenbrunner und Müller machen uns noch immer Sorgen. Die beiden sind ziemlich unvernünftig. Aber ich habe an alles gedacht. Komm, guck es dir an!« Er führte mich in sein Schlafzimmer, öffnete einen Schrank und holte ein paar Kleidungsstücke hervor, die er auf dem Bett ausbreitete: »Siehst du?« Es war Arbeitskleidung, aus derbem blauem Tuch, mit Öl und Schmierfett verschmutzt. »Hier, die Etiketten.« Ich betrachtete sie: Es waren französische Kleidungsstücke. »Ich habe auch Schuhe, Mütze, Armbinde, alles. Und Papiere. Hier.« Er zeigte mir die Papiere – die eines französischen Arbeiters vom STO. »In Frankreich werde ich natürlich Schwierigkeiten haben, mich dafür auszugeben, aber für die Russen wird es genügen. Selbst wenn ich an einen Offizier gerate, der Französisch spricht, ist die Gefahr gering, dass er über meinen Akzent stolpert. Ich kann immer noch sagen, dass ich Elsässer bin.« – »Nicht dumm«, sagte ich. »Wo hast du das gefunden?« Er tippte mit dem Finger auf den Randdes Glases und lächelte: »Glaubst du etwa, in Berlin werden die Fremdarbeiter heutzutage gezählt? Einer mehr oder weniger …« Er nahm einen Schluck. »Du solltest daran denken. Mit deinem Französisch kämst du glatt bis Paris.« Wir gingen wieder ins Wohnzimmer hinunter. Er schenkte mir noch ein Glas ein und stieß mit mir an. »Das ist zwar nicht ohne Risiko«, sagte er lachend, »aber was ist schon ohne Risiko? Wir sind heil aus Stalingrad herausgekommen. Man muss schlau sein, das ist alles. Weißt du, dass es Gestapo-Leute gibt, die versuchen, sich Sterne und jüdische Papiere zu beschaffen?« Er lachte immer noch. »Sie werden Schwierigkeiten haben. Es gibt nicht mehr viele auf dem Markt.«
Ich schlief wenig und kehrte früh in die Bendlerstraße zurück. Der Himmel war klar, und überall waren Schturmowiks. Der folgende Tag war noch schöner, die Gärten in den Ruinen standen in Blüte. Thomas sah ich nicht, er war in eine Geschichte zwischen Wolff und Kaltenbrunner verwickelt, ich kenne die Einzelheiten nicht, Wolff war aus Italien gekommen, um die Übergabemodalitäten zu erörtern, Kaltenbrunner war fuchsteufelswild und wollte ihn verhaften oder aufhängen lassen, wie gewöhnlich endete die Angelegenheit vor dem Führer, der Wolff abreisen ließ. Als ich schließlich auf Thomas stieß, an dem Tag, als die Seelower Höhen fielen, war er wütend und wetterte gegen Kaltenbrunners Dummheit und Borniertheit. Ich selbst hatte keine Ahnung, was für ein Spiel Kaltenbrunner spielte, was für einen Sinn es hatte, sich gegen den Reichsführer zu wenden, mit Bormann zu intrigieren und zu taktieren, um der neue Günstling des Führers zu werden. Kaltenbrunner war kein Idiot, er musste besser als jeder andere wissen, dass das Spiel aus war; doch statt Vorkehrungen für die Zeit danach zu treffen, vergeudete er seine Energie mit fruchtlosen und unsinnigen Streitereien: die fadenscheinige Inszenierung eines Durchhaltewillens, wobei ihm, wie allen klar war, die ihn kannten, der Schneid fehlte,sie bis zu ihrer logischen Konsequenz fortzusetzen. Kaltenbrunner war beileibe nicht der Einzige, der jedes Gefühl für Maß und Ziel verlor. Überall in Berlin bildeten sich Sperrkommandos des SD, der Polizei, der Feldgendarmerie oder verschiedener Parteiorganisationen, die eine mehr als
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