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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Oder zurückzuwerfen, doch in der Bendlerstraße äußerten sich meine Gesprächspartner höchst unbestimmt, was die Position und das Vorrücken der Divisionen anging, und die angekündigte Offensive der Armee Wenck ließ ebenso auf sich warten wie diejenige von Steiners Waffen-SS einige Tage zuvor. Was mich anging, so muss ich gestehen, dass mich die Götterdämmerung nicht sonderlich reizte und ich liebend gern woanders gewesen wäre, um in Ruhe über meine Situation nachdenken zu können. Nicht, dass ich sonderlich Furcht vor dem Tod gehabt hätte, das könnt ihr mir glauben, schließlich hatte ich wenig Gründe, am Leben zu bleiben, aber die Vorstellung, michderart umbringen zu lassen, mehr oder weniger dem Zufall der Ereignisse ausgeliefert, durch eine Granate oder eine verirrte Kugel, missfiel mir entschieden, ich hätte mir gewünscht, mich hinzusetzen und die Dinge zu beobachten, statt mich auf diese Weise von der schwarzen Strömung forttragen zu lassen. Doch eine solche Wahl bot sich nicht, ich musste meine Pflicht tun, wie alle anderen auch, und da ich es musste, tat ich es loyal, ich sammelte und übermittelte diese vollkommen nutzlosen Meldungen, die nur einen einzigen Zweck zu haben schienen: mich in Berlin zu halten. Unsere Feinde zeigten sich von dieser ganzen Aufregung unbeeindruckt und setzten ihren Vormarsch fort.
     
    Bald musste auch die Kurfürstenstraße geräumt werden. Die Offiziere, die blieben, wurden verteilt; Müller zog sich in seine Ausweich-Kommandozentrale in der Krypta der Dreifaltigkeitskirche in der Mauerstraße zurück. Die Bendlerstraße befand sich praktisch in der Hauptkampflinie, die Verbindungen wurden sehr kompliziert: Um das Gebäude zu erreichen, musste ich zwischen den Trümmern bis zur Grenze des Tiergartens fahren, dann zu Fuß weitergehen, wobei ich mich durch die Keller und Ruinen von Kellerkindern führen ließ, kleinen schmutzigen Waisen, die hier jeden Winkel kannten. Der Lärm des Geschützfeuers war wie ein Lebewesen, ein vielgestalter und unermüdlicher Angriff auf das Gehör; doch es wurde noch schlimmer, wenn die ungeheure Stille der Feuerpausen herabsank. Ganze Stadtgebiete brannten, riesige Phosphorbrände, die die Luft ansogen und heftige Stürme hervorriefen, die ihrerseits die Flammen entfachten. Die kurzen heftigen Regenschauer löschten manchmal einige Brandherde, trugen aber vor allem zur Verstärkung des Brandgeruchs bei. Einige Flugzeuge versuchten noch immerauf der Ost-West-Achse zu landen; zwölf Ju 52 mit SS-Junkern wurden eine nach der anderen beim Anflug abgeschossen. Die Armee Wenck schien sich nach den Nachrichten, die man mir zukommen ließ, irgendwo südlich von Potsdam in Wohlgefallen aufgelöst zu haben. Der 27. April war sehr kalt, und nach einem heftigen sowjetischen Angriff auf den Potsdamer Platz, der von der Leibstandarte »Adolf Hitler« zurückgeschlagen worden war, herrschte einige Stunden Ruhe. Als ich zur Kirche in der Mauerstraße zurückkehrte, um Müller zu melden, erfuhr ich, er befinde sich in einem der Nebengebäude des Reichsinnenministeriums und ich solle mich dorthin begeben. Ich fand ihn in einem großen, fast unmöblierten Saal mit Nässeflecken an den Wänden, anwesend waren außerdem Thomas und etwa dreißig Offiziere des SD und der Gestapo. Obwohl Müller uns eine halbe Stunde warten ließ, kamen nur noch fünf weitere Männer (er hatte insgesamt fünfzig zu sich befohlen). Dann mussten wir nach Rangordnung antreten; nachdem er hatte rühren lassen, folgte eine kurze Rede: Am Tag zuvor habe der Führer nach einem Telefongespräch mit Obergruppenführer Kaltenbrunner beschlossen, das RSHA für seine Dienste und seine unverbrüchliche Treue auszuzeichnen. Er habe gebeten, zehn in Berlin verbliebenen Offizieren, die sich in diesem Krieg besonders bewährt hätten, das Deutsche Kreuz in Gold zu verleihen. Die Liste habe Obergruppenführer Kaltenbrunner zusammengestellt; wer nicht aufgeführt werde, dürfe nicht enttäuscht sein, die Ehre werde allen zuteil. Dann las Müller die Liste vor, auf der er selbst ganz oben stand; ich war nicht überrascht, dass sich Thomas auf ihr befand; doch zu meiner großen Überraschung las Müller auch meinen Namen vor, an vorletzter Stelle. Was hatte ich denn groß getan, um derart berücksichtigt zu werden? Ich war nicht gerade gut angeschrieben bei Kaltenbrunner, ganz und gar nicht. Rasch zwinkerte Thomas mir quer durch denSaal zu; wir formierten uns bereits für unseren Weg zur

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