Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
Vom Netzwerk:
Trotzdem hat er stattgefunden, das könnt ihr mir glauben. Im Übrigen ist das Schweigen der Chronisten zu diesem Punkt durchaus verständlich. Müller ist verschwunden, wurde einige Tage später getötet oder ist den Russen in die Hände gefallen; Bormann ist zweifellos bei dem Versuch, aus Berlin zu fliehen, ums Leben gekommen; die beiden Generale müssen Krebs und Burgdorf gewesen sein, sie haben Selbstmord begangen; der Feldwebel dürfte auch gefallen sein. Und was aus den Offizieren des RSHA geworden ist, die Zeugen dieses Vorfalls wurden, weiß ich nicht; aber man kann angesichts ihrer Soldbucheinträge davon ausgehen, dass diejenigen, die den Krieg überlebt haben, sich kaum gerühmt haben dürften, vom Führer noch drei Tage vor seinem Tod ausgezeichnet worden zu sein. Insofern ist es durchaus möglich, dass dieser kleine Zwischenfall der Aufmerksamkeit der Forscher entgangen ist (aber vielleicht gibt es ja noch einen Hinweis daraufin den sowjetischen Archiven?). Über eine lange Treppe, die im Garten der Reichskanzlei endete, wurde ich ans Tageslicht geschleppt. Das prächtige Gebäude lag in Trümmern, von Bomben zerschmettert, aber ein schöner Duft von Jasmin und Hyazinthen erfüllte die frische Luft. Brutal wurde ich in ein Fahrzeug gestoßen und zur nahen Kirche gefahren; dort musste ich in den Bunker hinuntersteigen und wurde rücksichtslos in ein nacktes feuchtes Betonverlies geworfen. Der Fußboden war mit Pfützen übersät; die Wände schwitzten; und das Schloss der schweren Metalltür stürzte mich in eine absolute, uterine Finsternis: Ich konnte die Augen noch so anstrengen, es drang kein Lichtstrahl herein. So blieb ich mehrere Stunden, ich war durchnässt, ich fror. Dann wurde ich geholt. Ich wurde an einen Stuhl gebunden, ich blinzelte, das Licht schmerzte; Müller verhörte mich persönlich; sie schlugen mich mit Gummiknüppeln in die Seiten, auf die Schultern und Arme, auch Müller versetzte mir Schläge mit seinen groben Bauernfäusten. Ich versuchte zu erklären, dass meine unbedachte Handlung gar nichts zu bedeuten hätte, dass ich ganz spontan gehandelt hätte, dass es ein Aussetzer gewesen sei, aber Müller glaubte mir nicht, er hielt es für eine von langer Hand vorbereitete Verschwörung, er wollte von mir die Namen meiner Komplizen hören. Umsonst protestierte ich, er ließ sich nicht davon abbringen: Wenn Müller sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte er hartnäckig sein. Schließlich warfen sie mich wieder in meine Zelle, wo ich, in den Pfützen liegend, darauf wartete, dass die von den Schlägen verursachten Schmerzen nachließen. So muss ich eingeschlafen sein, den Kopf halb im Wasser. Ich erwachte steif vor Kälte und von Krämpfen geplagt; die Tür öffnete sich, und ein anderer Mann wurde mit Schlägen zu mir in die Zelle gestoßen. Ich konnte gerade noch die Uniform eines SS-Offiziers ohne Orden und Rangabzeichen erkennen. Ich hörte ihn in der Finsternis mit bayerischem Dialekt vor sichhin fluchen: »Kruzi Türken nei, gibt es hier denn keinen trockenen Flecken?« – »Versuchen Sie es an der Wand«, murmelte ich höflich. »Wer bist du denn?«, ertönte seine grobe, aber dennoch kultivierte Stimme. »Ich? Ich bin Obersturmbannführer Dr. Aue vom SD. Und Sie?« Seine Stimme mäßigte sich: »Entschuldigen Sie, Obersturmbannführer. Ich bin Gruppenführer Fegelein. Exgruppenführer Fegelein«, fügte er mit etwas zu dick aufgetragener Ironie hinzu. Der Name war mir bekannt: Er hatte Wolff als Verbindungsoffizier des Reichsführers beim Führer abgelöst; vorher hatte er eine SS-Kavallerie-Brigade in Russland befehligt, in den Pripjet-Sümpfen hatte er Partisanen und Juden gejagt. Beim Reichsführer galt er als ehrgeizig, als Spielernatur, Prahlhans und schmucker Bursche. Ich stützte mich auf die Ellenbogen: »Und was führt Sie hierher, Exgruppenführer?« – »Oh, ein Missverständnis. Ich hatte ein wenig getrunken und hatte ein Mädel bei mir zu Haus; die Hysteriker im Bunker glaubten, ich wollte Fahnenflucht begehen. Wette, das war wieder so ein Coup von Bormann. Die sind alle verrückt geworden da unten; mit ihren Walhalla-Geschichten, nichts für mich, danke bestens. Aber das wird sich schon alles regeln, meine Schwägerin wird dafür sorgen.« Ich hatte keine Ahnung, wen er meinte, sagte aber nichts. Erst Jahre später, als ich Trevor-Roper las, verstand ich es: Fegelein hatte Eva Brauns Schwester geheiratet, von deren Existenz ich damals, wie fast alle, nichts

Weitere Kostenlose Bücher