Die Wohlgesinnten
Reichskanzlei. Im Auto erklärte mir Thomas die Hintergründe: Unter denen, die sich noch in Berlin befanden, gehörte ich, mit ihm, zu den wenigen, die an der Front gestanden hatten, das sei das entscheidende Kriterium gewesen. Der Weg zur Reichskanzlei, die Wilhelmstraße entlang, erwies sich als schwierig, die Wasserleitungen waren zerstört, die Straße stand unter Wasser, Leichen schwammen darin und gerieten gemächlich ins Schaukeln, als unsere Fahrzeuge vorbeifuhren; das letzte Stück mussten wir zu Fuß gehen und wurden bis zu den Knien nass. Müller betrat mit uns die Ruine des Auswärtigen Amts: Von dort aus führte ein unterirdischer Tunnel in den Führerbunker. Auch im Tunnel floss Wasser, es reichte uns bis zu den Knöcheln. Die Männer der Leibstandarte bewachten den Eingang des Bunkers: Sie ließen uns passieren, nahmen uns aber die Dienstwaffen ab. Wir wurden durch einen ersten Bunker geführt, dann über eine wassertriefende Wendeltreppe in einen zweiten, noch tieferen. Wir wateten durch den Wasserlauf, der aus dem AA kam, am Fuße der Treppe durchnässte er die roten Teppiche des langen Flurs, in dem wir auf hölzernen Schulstühlen an der Wand Platz nehmen mussten. Ein Wehrmachtsgeneral vor uns rief einem anderen mit den Schulterstücken eines Generaloberst zu: »Hier ersaufen wir ja noch alle!« Der Generaloberst versuchte ihn zu beruhigen und versicherte, dass eine Pumpe beschafft werde. Ein entsetzlicher Uringestank verpestete den Bunker, vermischt mit dem muffigen Geruch nach Schweiß und feuchter Wolle – Ausdünstungen, die man vergeblich mit Desinfektionsmitteln zu überlagern versucht hatte. Wir mussten einige Zeit warten; Offiziere kamen und gingen, überquerten mit lautem Platschen die mit Wasser vollgesogenen Teppiche, um hinten in einem anderen Saal zu verschwinden oder die Wendeltreppe wieder hinaufzusteigen; im Saal war das ununterbrochene Dröhnen eines Dieselaggregatszu hören. Zwei junge elegante Offiziere kamen vorbei, in ein angeregtes Gespräch vertieft; hinter ihnen tauchte mein alter Freund Hohenegg auf. Ich sprang auf und ergriff ihn am Arm, außer mir vor Freude, ihn hier wiederzusehen. Er nahm mich an der Hand und führte mich in einen Raum, wo mehrere Waffen-SS-Männer Karten spielten oder in Etagenbetten schliefen. »Ich bin als beigeordneter Arzt des Führers hierherbefohlen worden«, sagte er düster. Sein kahler schweißbedeckter Schädel glänzte im gelben Licht der Glühlampe. »Und wie geht es ihm?« – »Oh, nicht sehr gut. Aber ich habe nichts mit ihm zu tun, mir sind die Kinder unseres geschätzten Propagandaministers anvertraut worden. Sie sind im ersten Bunker«, fügte er hinzu und deutete mit dem Finger auf die Decke. Er sah sich um und sagte leise: »Das ist ziemliche Zeitverschwendung: Kaum bin ich mit der Mutter allein, schwört sie Stein und Bein, dass sie sie alle vergiften wird, bevor sie sich selber umbringt. Die armen Kleinen ahnen nichts, sie sind entzückend, es bricht mir das Herz, das kann ich Ihnen sagen. Aber unser hinkender Mephisto ist fest entschlossen, eine Ehrengarde zu stellen, die seinen Meister in die Hölle begleitet. Soll er doch.« – »So weit ist es schon?« – »Sicher. Der dicke Bormann, dem dieser Gedanke gar nicht schmeckt, hat versucht, ihn zum Fortgang zu bewegen, aber er hat es abgelehnt. Nach meiner unmaßgeblichen Meinung dauert es nicht mehr lange.« – »Und Sie, Herr Oberstarzt?«, fragte ich lächelnd. Ich war wirklich sehr glücklich, ihn wiederzusehen. »Ich? Carpe diem , wie die englischen public school boys sagen. Wir veranstalten heute Abend ein Fest. Oben in der Reichskanzlei, um ihn nicht zu stören. Kommen Sie, wenn Sie können. Es werden eine Menge hitziger Jungfrauen da sein, die ihre Jungfernschaft lieber einem Deutschen opfern, egal, wie er aussieht, als einem struppigen und stinkenden Kalmücken.« Er schlug sich einige Male auf seinen dicken Bauch: »In meinem Alterlehnt man solche Angebote nicht mehr ab. Dann« – seine Augenbrauen zogen sich auf seinem eiförmigen Schädel komisch nach oben –, »dann werden wir weitersehen.« – »Herr Oberstarzt«, sagte ich in feierlichem Ton, »Sie sind viel weiser als ich.« – »Daran habe ich nie gezweifelt, Herr Obersturmbannführer. Aber ich habe nicht Ihr unverschämtes Glück.« – »Auf jeden Fall können Sie mir glauben, dass ich entzückt bin, Sie wiederzusehen.« – »Ich auch, ich auch!« Wir standen schon wieder im Flur. »Kommen Sie, wenn Sie
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