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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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ich. »Es gibt kein Gericht mehr! Alle Richter sind tot oder geflohen. Wie wollen Sie über mich zu Gericht sitzen?« – »Wir haben schon über dich gerichtet«, sagte Weser mit einer Stimme, die so leise war, dass ich das Wasser plätschern hörte. »Wir haben dich für schuldig befunden.« – »Sie?«, lachte ich höhnisch. »Sie sind Polypen. Sie haben gar kein Recht, ein Urteil zu fällen.« – »Unter den gegebenen Umständen«, Clemens’ grobe Stimme grollte, »haben wir uns einfach das Recht genommen.« – »Dann sind Sie«, sagte ich traurig, »selbst wenn Sie Recht haben, auch nicht besser als ich.«
    In diesem Augenblick hörte ich aus Richtung der Kochstraßeeinen fürchterlichen Lärm. Menschen schrien und liefen unter wildem Platschen durchs Wasser. Ein Mann kam vorbei und brüllte: »Die Russen! Die Russen sind im Tunnel!« – »Scheiße!«, stieß Clemens hervor. Weser und er hielten ihre Taschenlampen in Richtung der Station; deutsche Soldaten strömten zurück und feuerten auf gut Glück; im Hintergrund waren die Mündungsfeuer der Maschinenpistolen zu erkennen, Kugeln pfiffen durch den Tunnel, knallten gegen die Wand oder landeten mit leisem Schnalzen im Wasser. Die Menschen schrien, fielen ins Wasser. Clemens und Weser hoben im Licht ihrer Taschenlampen bedächtig ihre Pistolen und gaben Schuss um Schuss auf den Feind ab. Der ganze Tunnel hallte wider von Schreien, Schüssen, wild bewegtem Wasser. Gegenüber antworteten Maschinenpistolen mit Feuerstößen. Clemens und Weser wollten gerade ihre Lampen ausknipsen; in diesem Augenblick sah ich in einem flüchtig aufblitzenden Lichtschein, wie Weser unter dem Kinn getroffen und leicht angehoben wurde und dann unter gewaltigem Aufspritzen in seiner ganzen Länge nach hinten fiel. Clemens brüllte: »Weser! Scheiße!« Aber seine Taschenlampe war erloschen, ich hielt den Atem an und tauchte im Wasser unter. Mich mehr an den Gleisen entlanghangelnd als schwimmend, bewegte ich mich auf die Sanitätswaggons zu. Als ich den Kopf wieder aus dem Wasser streckte, flogen mir die Kugeln um die Ohren, die Patienten in den Waggons schrien in höchster Panik, ich hörte französische Stimmen, kurze Befehle. »Nicht schießen, Kameraden!«, rief ich auf Französisch. Eine Hand packte mich am Kragen und zog mich triefend zum Bahnsteig. »Auch aus der Heimat?«, fragte eine spöttische Stimme. Ich kam nur mühsam wieder zu Atem und hustete, ich hatte Wasser geschluckt. »Nein, nein, ich bin Deutscher«, sagte ich. Mein Retter gab einen Feuerstoß neben meinem Kopf ab, der mich in dem Augenblick taub machte, als ich Clemens’ Stimme hörte: »Aue! DuDreckskerl! Ich krieg dich!« Ich zog mich auf den Bahnsteig und lief, mir mit Händen und Ellenbogen einen Weg durch die von Panik ergriffenen Flüchtlinge bahnend, zur Treppe und rannte sie hoch, zwei Stufen auf einmal nehmend.
    Die Straße war leer, bis auf drei ausländische SS-Männer, die mit einem Maschinengewehr und Panzerfäusten in Richtung Zimmerstraße liefen, ohne auf mich oder auf die Zivilisten zu achten, die aus dem U-Bahn-Eingang flohen. Ich wandte mich im Laufschritt in die entgegengesetzte Richtung, die Friedrichstraße nach Norden hinauf, vorbei an brennenden Gebäuden, Leichen, Fahrzeugwracks. Unter den Linden schoss eine gewaltige Wasserfontäne aus einer zerstörten Leitung und besprengte die Leichen und Trümmer. An der Ecke gingen zwei unrasierte alte Männer, die das Krachen der Werfer- und schweren Artilleriegranaten überhaupt nicht zu beachten schienen. Der eine trug eine Armbinde für Blinde, der andere führte ihn. »Wohin gehen Sie?«, fragte ich keuchend. »Wissen wir nicht«, antwortete der Blinde. »Woher kommen Sie?«, fragte ich wieder. »Wissen wir auch nicht.« Sie setzten sich auf eine Kiste, die zwischen den Ruinen und Schutthaufen stand. Der Blinde stützte sich auf seinen Stock. Der andere sah sich mit irren Blicken um und zog seinen Freund am Ärmel. Ich kehrte ihnen den Rücken und setzte meinen Weg fort. Die Straße lag, so weit ich sehen konnte, vollkommen verlassen. Gegenüber stand das Gebäude, in dem sich die Büros von Dr. Mandelbrod und Herrn Leland befanden. Es hatte einige Treffer erhalten, war aber allem Anschein nach nicht zerstört. Eine der Haustüren hing noch in einer Angel, ich stieß sie mit der Schulter auf und betrat die Halle, die mit Marmorplatten und von den Wänden gefallenem Stuck übersät war. Offenbar hatten hier Soldaten gelagert: Ich sah die

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