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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Spuren von Kochfeuern, leere Konservendosen und fast trockene Kothaufen. Doch die Halle war verlassen. Ich stieß die Tür zur Nottreppeauf und erklomm sie im Laufschritt. Im obersten Stockwerk öffnete sich die Treppe auf einen Flur, der in die schöne Empfangshalle vor Mandelbrods Büros führte. Zwei der Amazonen saßen dort, die eine auf dem Sofa, die andere in einem Sessel, der Kopf der einen war zur Seite, der der anderen nach hinten geneigt, die Augen waren weit aufgerissen, ein dünner Blutfaden lief ihnen aus Schläfe und Mundwinkel; jede hielt eine kleine Pistole mit Perlmuttgriff in der Hand. Eine dritte junge Frau lag quer vor der Polstertür. Von eisigem Grauen erfasst, ging ich ganz nahe heran, hielt mein Gesicht dicht an das ihre, ohne sie zu berühren. Sie waren perfekt zurechtgemacht, das Haar zurückgekämmt, die vollen Lippen mit Lippenstift zum Glänzen gebracht, die schwarze Tusche brachte noch immer einen Kranz von langen Wimpern um ihre leeren Augen zur Geltung, ihre Nägel auf den Griffschalen der Pistolen waren sorgfältig gefeilt und lackiert. Kein Atemzug hob ihre Brust unter den gebügelten Kostümen. Vergebens musterte ich ihre hübschen Gesichter, ich konnte sie nicht voneinander unterscheiden, konnte nicht sagen, wer Hilde oder Helga oder Hedwig war; trotzdem waren sie keine Drillinge. Ich stieg über die, die vor der Tür lag, hinweg und betrat das Büro. Drei weitere junge Frauen lagen tot auf dem Sofa und dem Teppich; Mandelbrod und Leland hielten sich im Hintergrund vor einem großen zerbrochenen Fenster auf, neben einem Gebirge von Ledertaschen und -koffern. Draußen, hinter ihnen, tobte ein Brand, aber sie achteten nicht auf die Rauchwirbel, die in den Raum drangen. Ich ging zu ihnen hinüber, sah auf ihr Gepäck und fragte: »Sie wollen verreisen?« Mandelbrod, der eine Katze auf den Knien hielt und sie streichelte, lächelte leicht in den Fettfluten, die seine Gesichtszüge ertränkten. »Genau«, sagte er mit seiner wunderschönen Stimme. »Möchtest du mit uns kommen?« Laut zählte ich die Koffer: »Neunzehn, nicht schlecht, fahren Sie weit weg?« – »Zuerst einmal nachMoskau«, sagte Mandelbrod. »Dann werden wir weitersehen.« Leland, in einem marineblauen Regenmantel, saß auf einem kleinen Stuhl neben Mandelbrod; er rauchte eine Zigarette, einen Glasaschenbecher auf den Knien; er sah mich an, ohne etwas zu sagen. »Verstehe«, sagte ich. »Und Sie glauben wirklich, Sie können das ganze Zeugs mitnehmen?« – »Aber natürlich«, lächelte Mandelbrod. »Das ist schon geregelt. Wir warten nur noch, dass sie uns holen.« – »Die Russen? Dann darf ich Ihnen vielleicht mitteilen, dass unsere Truppen das Viertel noch halten.« – »Das wissen wir«, sagte Leland und stieß eine lange Rauchwolke aus. »Die Sowjets haben uns gesagt, dass sie morgen ganz bestimmt hier sein werden.« – »Ein sehr kultivierter Oberst«, fügte Mandelbrod hinzu. »Er hat uns versprochen, dass wir uns keine Sorgen machen müssten, er würde sich persönlich um uns kümmern. Du musst nämlich wissen, dass wir noch viel Arbeit vor uns haben.« – »Und die Frauen?«, fragte ich und zeigte auf die Leichen. »Ach, die Ärmsten, sie wollten nicht mitkommen. Sie haben einfach zu sehr an ihrem geliebten Vaterland gehangen. Sie wollten nicht begreifen, dass es wichtigere Werte gibt.« – »Der Führer ist gescheitert«, sagte Leland kalt. »Doch der ontologische Krieg, den er begonnen hat, ist noch nicht vorbei. Wer außer Stalin könnte die Arbeit vollenden?« – »Als wir ihnen unsere Dienste angeboten haben«, flüsterte Mandelbrod und streichelte seine Katze, »waren sie sogleich sehr interessiert. Sie wissen, dass sie nach diesem Krieg Männer wie uns brauchen, dass sie sich nicht erlauben können, die Westmächte den Rahm abschöpfen zu lassen. Wenn du mit uns kommst, kann ich dir eine gute Stellung versprechen, mit allen Vorteilen.« – »Du machst einfach weiter mit dem, was du so gut kannst«, sagte Leland. »Ihr seid verrückt!«, rief ich aus. »Ihr seid alle verrückt! In dieser Stadt sind alle verrückt geworden.« Bei diesen Worten zog ich mich bereits zur Tür zurück, vorbei an den anmutig zusammengesunkenen Leichender Frauen. »Außer mir!«, schrie ich, bevor ich floh. Lelands letzte Worte erreichten mich an der Tür: »Wenn du deine Meinung änderst, komm zu uns zurück!«
    Unter den Linden war alles noch immer wie ausgestorben; hier und da schlugen Granaten ein, in eine

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