Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
Vom Netzwerk:
dieEingangshalle eines Wohngebäudes. Vor mir drehten sich Füße in der Luft, nackt oder in Socken. Ich hob den Kopf: Mehrere Menschen, darunter auch Frauen und Kinder, hingen mit baumelnden Armen am Treppengeländer. Ich fand die Kellertür und öffnete sie: Ein Gestank von Verwesung, Scheiße und Erbrochenem schlug mir entgegen, der Keller war voll Wasser und aufgetriebenen Leichen. Ich schloss die Tür und versuchte, in die oberen Geschosse zu gelangen: Nach dem ersten Absatz führte die Treppe ins Leere. Ich ging wieder hinunter, machte einen Bogen um die Erhängten und trat zurück ins Freie. Ein leichter Regen hatte eingesetzt, von überall her waren Einschläge zu hören. Vor mir tauchte ein U-Bahn-Eingang auf, die Station Stadtmitte der Linie C. Ich eilte die Treppe hinunter. Ich lief durch die Sperre und setzte meinen Abstieg in die Dunkelheit fort, mich mit einer Hand an der Wand entlangtastend. Die Fliesen waren feucht, Wasser sickerte von der Decke und lief am Gewölbe entlang. Vom Bahnsteig stiegen dumpfe Stimmen herauf. Er war mit Körpern bedeckt, ich konnte nicht erkennen, ob sie tot waren, schliefen oder dort einfach lagen, ich stolperte über sie, Erwachsene schrien, Kinder weinten oder stöhnten. Ein U-Bahn-Wagen mit zerbrochenen Scheiben, von flackernden Kerzen erhellt, war auf dem Bahnsteig stationiert: Im Inneren standen Waffen-SS-Männer mit französischen Ärmelabzeichen in Grundstellung, und ein hochgewachsener Brigadeführer im schwarzen Ledermantel nahm, mit dem Rücken zu mir, eine feierliche Ordensverleihung vor. Um sie nicht zu stören, drückte ich mich leise an ihnen vorbei, sprang dann auf das Gleis, wo ich in kaltem Wasser landete, das mir bis zu den Waden reichte. Ich wollte eigentlich nach Norden, hatte aber die Orientierung verloren; ich versuchte, mir die Richtung der Linien ins Gedächtnis zu rufen, aus der Zeit, als ich mit der U-Bahn gefahren war, aber ich wusste noch nicht einmal mehr, auf welchem Bahnsteig ich gelandet war, ichwar völlig verwirrt. Auf der einen Seite im Tunnel war etwas Licht: Dorthin wandte ich mich, mich mühsam im Wasser vorwärtstastend, unter dem die Gleise verborgen lagen, sodass ich über unsichtbare Hindernisse stolperte. Am Ende des Tunnels standen mehrere U-Bahn-Züge hintereinander, auch sie von Kerzen beleuchtet, eine behelfsmäßige Sanitätsstation, völlig überfüllt mit schreienden, fluchenden, stöhnenden Verwundeten. Ich ging an diesen Waggons vorbei – niemand achtete auf mich – und setzte meinen Weg vorsichtig fort, weiterhin auf Tuchfühlung mit der Wand. Das Wasser stieg, es reichte mir jetzt schon bis zur Mitte der Waden. Ich blieb stehen und tauchte meine Hand hinein: Es schien langsam auf mich zuzufließen. Ich ging weiter. Eine treibende Leiche stieß gegen meine Beine. Ich fühlte meine kältestarren Füße kaum noch. Vor mir glaubte ich einen Lichtschimmer zu sehen, andere Geräusche zu hören als das Plätschern des Wassers. Schließlich gelangte ich in einen Bahnhof, der nur von einer einzigen Kerze erhellt wurde. Das Wasser reichte mir jetzt bis zu den Knien. Auch dort waren viele Menschen: »Welche Station ist das, bitte?«, rief ich. »Kochstraße«, wurde mir freundlich geantwortet. Ich hatte mich in der Richtung geirrt, ich hielt direkt auf die russischen Linien zu. Also machte ich kehrt und ging erneut in den Tunnel nach Stadtmitte hinein. Vor mir konnte ich den Lichtschimmer des U-Bahn-Lazaretts erkennen. Auf dem Gleis, neben dem letzten Waggon, standen zwei menschliche Gestalten, die eine ziemlich groß, die andere kleiner. Eine Taschenlampe leuchtete auf und blendete mich; während ich mir die Augen beschirmte, dröhnte eine vertraute Stimme: »Seien Sie gegrüßt, Aue. Wie ist das werte Befinden?« – »Du kommst uns gerade recht«, sagte eine zweite, nicht ganz so grobe Stimme. »Dich haben wir gesucht.« Es waren Clemens und Weser. Eine zweite Taschenlampe ging an, und sie kamen näher; ich watete rückwärts. »Wir wollten mit dir reden«, sagte Clemens.»Über deine Mutti.« – »Na, hören Sie, meine Herren! Halten Sie das wirklich für den richtigen Augenblick?« – »Jeder Augenblick ist richtig, um über wichtige Dinge zu reden«, sagte die raue, ein wenig durchdringende Stimme Wesers. Ich wich noch weiter zurück, bis ich mit dem Rücken zur Wand stand; kaltes Wasser sickerte aus dem Beton und ließ meine Schultern eisig erstarren. »Was wollen Sie denn noch von mir?«, keuchte ich. »Meine Akte ist

Weitere Kostenlose Bücher