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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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nicht, ob die Zwillinge das gesehen haben. Auf jeden Fall haben sie dich die Treppe hochgehen sehen. Du hast Leiche und Axt liegen lassen und bist blutverschmiert ins Obergeschoss gestiegen.« – »Wir wissen nicht, warum du die Kinder nicht getötet hast«, sagte Weser. »Du hättest es tun können, ganz leicht. Aber du hast es nicht getan. Vielleicht hast du es nicht gewollt, vielleicht hast du es gewollt, aber es war zu spät, und sie waren schon weggelaufen. Vielleicht hast du es gewollt und dann deine Meinung geändert. Vielleicht hast du auch schon gewusst, dass es die Kinder deiner Schwester sind.« – »Wir haben bei ihr in Pommern vorbeigeschaut«, knurrte Clemens. »Da haben wir Briefe und Dokumente gefunden. Hochinteressante Sachen, unter anderem die Papiere der beiden Kleinen. Aber wir wussten bereits, was es damit auf sich hatte.« Ich stieß ein kleines hysterisches Lachen aus: »Wissen Sie, dass ich da war? Ich war im Gebüsch, ich habe Sie gesehen.« – »Um die Wahrheit zu sagen«, Weser nahm ungerührt den Faden wieder auf, »wir haben es vermutet, aber nicht für so wichtiggehalten. Wir haben uns gesagt, dass wir dich eines Tages sowieso finden. Und wir haben dich gefunden, wie du siehst.« – »Fahren wir mit der Geschichte fort«, sagte Clemens. »Du bist blutbesudelt die Treppe hinaufgestiegen. Oben wartete deine Mutter, auf dem Treppenabsatz oder vor der Tür ihres Schlafzimmers. Deine alte Mutter trug ein Nachthemd. Sie hat mit dir geredet und dir in die Augen gesehen. Was sie gesagt hat, wissen wir nicht. Die Zwillinge haben alles gehört, aber nichts erzählt. Sie wird dich daran erinnert haben, wie sie dich in ihrem Schoß getragen, an ihren Brüsten genährt, wie sie dir den Hintern abgewischt und dich gewaschen hat, während dein Vater Gott weiß was für Frauenzimmern nachjagte. Vielleicht hat sie dir ihre Brust gezeigt.« – »Wohl kaum«, sagte ich mit bitterem Auflachen. »Ich war allergisch gegen ihre Milch, sie hat mich nie gestillt.« – »Pech für dich«, meinte Clemens ungerührt. »Vielleicht hat sie dich dann liebevoll unters Kinn gefasst, die Wange gestreichelt und dich ihr Kind genannt. Doch du hast dich nicht rühren lassen: Du hast ihr Liebe geschuldet, aber nur Hass für sie gehabt. Du hast die Augen geschlossen, um ihre nicht zu sehen, und du hast ihren Hals mit deinen Händen umfasst und zugedrückt.« – »Sie sind wahnsinnig!«, schrie ich. »Sie saugen sich da Gott weiß was aus den Fingern!« – »Durchaus nicht«, sagte Weser heimtückisch. »Natürlich ist das eine Rekonstruktion, aber sie deckt sich mit den Fakten.« – »Hinterher«, fuhr Clemens mit seinem ruhigen Bass fort, »bist du ins Badezimmer gegangen und hast dich ausgezogen. Du hast deine Kleidung in die Badewanne geworfen, dich gewaschen, alles Blut abgewischt und bist nackt in dein Schlafzimmer zurückgegangen.« – »Was da passiert ist, können wir nicht sagen«, erklärte Weser. »Vielleicht hast du irgendwelche perversen Bedürfnisse befriedigt, vielleicht auch einfach geschlafen. Im Morgengrauen bist du aufgestanden, hast deine Uniform angezogen und bist abgereist.Du bist mit dem Bus gefahren, dann mit dem Zug, du bist nach Paris zurückgekehrt, dann nach Berlin. Am 30. April hast du ein Telegramm an deine Schwester aufgegeben. Sie ist nach Antibes gefahren, hat eure Mutter und deren Mann begraben, dann ist sie so schnell wie möglich mit den Kleinen abgereist. Vielleicht hat sie schon etwas geahnt.« – »Hören Sie auf«, stammelte ich, »Sie müssen den Verstand verloren haben. Die Richter haben gesagt, dass Sie überhaupt keinen Beweis haben. Warum hätte ich es tun sollen? Was für einen Grund hätte ich gehabt? Es muss doch immer ein Motiv geben.« – »Das wissen wir nicht«, sagte Weser ruhig. »Aber das ist uns im Grunde auch egal. Vielleicht wolltest du Moreaus Zaster. Vielleicht bist du auch nur ein Psychopath, sexuell gestört. Vielleicht hast du seit deiner Verwundung einen Dachschaden. Vielleicht ist es einfach Familienhass, wie er häufig vorkommt, und du wolltest dir den Krieg zunutze machen, um deine Rechnung in aller Stille zu begleichen, weil du gedacht hast, unter all den Toten würden die beiden nicht auffallen. Vielleicht bist du auch einfach nur verrückt geworden.« – »Aber was wollen Sie denn eigentlich?«, brüllte ich noch einmal. »Das haben wir dir doch gesagt«, murmelte Clemens. »Wir wollen Gerechtigkeit.« – »Die Stadt steht in Flammen!«, rief

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