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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Unterzeug, keine Pullover, keine Pelzmäntel, kein Frostschutzmittel, nichts. Die Roten dagegen sind auf den Winter vorbereitet.« – »Das sind Menschen wie wir. Sie werden genauso frieren.« – »Darum geht es nicht. Mit der Kälte kann man fertig werden, aber dazubraucht man Material, und das haben sie. Und selbst wenn sie es nicht haben, können sie improvisieren. Sie leben schon ihr ganzes Leben mit ihr. Er schilderte mir ein verblüffendes Beispiel, das er von einem seiner Hiwis hatte: In der Roten Armee bekamen die Männer Stiefel, die ihnen zwei Nummern zu groß waren. »Bei Frost schwellen die Füße an, und trotzdem bleibt noch genügend Luft, um Stroh und Zeitungspapier in die Schuhe zu stopfen. Wir kriegen unsere Stiefel in passender Größe. Die Hälfte der Männer wird mit amputierten Zehen im Krankenrevier landen.«
    Als wir in Jagotin ankamen, war ich so verdreckt, dass der Bahnhofsunteroffizier meinen Dienstgrad nicht erkannte und mich mit einer Schimpfkanonade empfing, weil ich ihm den Schlamm in seinen Wartesaal trug. Ich stellte mein Gepäck auf einer Bank ab und fuhr ihn an: »Ich bin Offizier. Reißen Sie sich gefälligst zusammen!« Daraufhin ging ich wieder hinaus und spülte mir mit Hanikas Hilfe an einer Schwengelpumpe den gröbsten Schmutz ab. Der Unteroffizier konnte sich gar nicht genug entschuldigen, als er meine Kragenspiegel sah, die mich noch immer als Obersturmführer auswiesen; er lud mich zu einem Bad und einem Abendessen ein. Ich übergab ihm den Brief an Thomas, damit er ihn mit der Feldpost weiterleitete. Er brachte mich in einer Kammer für Offiziere unter; Hanika schlief auf einer Bank im Wartesaal, mit Urlaubern, die auf den Zug nach Kiew warteten. Mitten in der Nacht weckte mich der Stationsvorsteher: »In zwanzig Minuten geht ein Zug. Kommen Sie.« Eilig zog ich mich an und ging hinaus. Der Regen hatte aufgehört, aber überall tropfte es noch, die Gleise glänzten im Licht der tristen Bahnhofslaternen. Hanika war mit dem Gepäck zu mir gestoßen. Dann fuhr der Zug ein, lange kreischten die Bremsen, bevor er ruckend zum Stehen kam. Wie alle Züge, die von der Front kamen, war er halb leer, wir konnten uns ein Abteil aussuchen. Ich legte mich wieder hinund schlief ein. Falls Hanika mit den Zähnen knirschte, so hörte ich es nicht.
    Als ich aufwachte, waren wir noch nicht einmal in Lubny. Unser Zug hielt häufig, weil es Alarm gab oder um schnellere Züge durchzulassen. In der Nähe der Toiletten lernte ich einen Major der Luftwaffe kennen, der aus dem Urlaub wieder zu seinem Geschwader in Poltawa zurückkehrte. Deutschland hatte er schon vor fünf Tagen verlassen. Er erzählte mir von der Moral an der Heimatfront – sie sei hervorragend, obwohl der Sieg auf sich warten lasse – und bot uns liebenswürdigerweise Brot und Wurst an. Auch auf den Bahnhöfen gab es gelegentlich etwas zu essen. Der Zug hatte sein eigenes Zeitmaß, ich hatte es nicht eilig. Wenn er hielt, hatte ich reichlich Gelegenheit, mich mit der Trostlosigkeit russischer Bahnhöfe vertraut zu machen. Die gerade erst installierte Technik sah schon wieder reparaturbedürftig aus; Gestrüpp und Unkraut überwucherten die Gleise; hier und da, sogar in dieser Jahreszeit, entfaltete eine besonders hartnäckige Blume ihre Farbenpracht, verloren in dem schwarzen, öldurchtränkten Kies. Die Kühe, die friedlich die Gleise überquerten, schienen jedes Mal aufzuschrecken, wenn die schrille Dampfpfeife eines Zuges sie in ihrer Meditation störte. Alles war mit dem stumpfen Grau einer Schlamm- und Staubschicht überzogen. Auf den Pfaden entlang den Gleisen schob ein schmutzstarrender Junge ein zusammengebasteltes Fahrrad, oder eine alte Bäuerin humpelte zum Bahnhof, um dort ein wenig verschimmeltes Gemüse zu verkaufen. Bereitwillig lieferte ich mich den unendlichen Verzweigungen dieses Schienensystems und den Verrichtungen seiner stumpfsinnigen, trunksüchtigen Weichensteller aus. Auf den Verschiebebahnhöfen sah man endlose Reihen von Güterwagen warten, schmutzig, fettig, schlammbespritzt, beladen mit Getreide, Kohle, Eisen, Erdöl, Vieh, allen Reichtümern der besetzten Ukraine, beschlagnahmt, um nach Deutschland geschickt zu werden,Dinge, deren die Menschen bedurften und die nach einem großen rätselhaften Plan von einem Ort zum anderen gefahren wurden. Führten wir also deshalb Krieg, starben die Menschen dafür? Nun ist es aber selbst im alltäglichen Leben nicht anders. Irgendwo verliert ein Mensch sein

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