Die Wohlgesinnten
Leben, bedeckt mit Kohlenstaub, in den erstickenden Tiefen einer Mine; an einem anderen Ort, weit entfernt, sitzt jemand im Warmen, im Sessel, in feines Alpaka-Tuch gehüllt, in ein gutes Buch vertieft, ohne je darüber nachzudenken, wie er zu diesem Sessel, diesem Buch, diesem Alpaka, dieser Wärme kommt. Der Nationalsozialismus war mit dem Anspruch angetreten, dass jeder Deutsche in Zukunft seinen bescheidenen Anteil an den guten Dingen des Lebens erhalten sollte; doch in den Grenzen des Reichs erwies sich das als unmöglich; diese Dinge nahmen wir jetzt den anderen weg. War das gerecht? Sofern wir die Stärke und Macht dazu hatten, ja, denn in Sachen Gerechtigkeit gibt es keine absolute Instanz, und jedes Volk definiert seine Wahrheit und seine Gerechtigkeit selbst. Doch wenn unsere Stärke jemals nachlassen, unsere Macht jemals schwinden sollte, dann müssten wir die Gerechtigkeit der anderen über uns ergehen lassen, so schrecklich sie auch sein mochte. Und auch das wäre nur gerecht.
In Poltawa schickte Blobel mich zum Entlausen, kaum dass er einen Blick auf mich geworfen hatte. Dann informierte er mich über die Situation. »Das Vorkommando konnte am 24. mit dem LV. Armeekorps in Charkow einrücken. Es hat schon eine Dienststelle eingerichtet.« Doch Callsen hatte viel zu wenig Männer und verlangte dringend Verstärkung. Augenblicklich waren die Wege allerdings wegen Regen und Schlamm unpassierbar. Die Züge fuhren nicht weit genug, denn die Gleise mussten instand gesetzt und verbreitert werden, und das wiederum ließ sich erst machen, wenn der Straßenverkehr wieder in Fluss gekommen war. »Sobald derFrost einsetzt, begeben Sie sich mit einigen Offizieren und Männern nach Charkow; der Kommandostab folgt Ihnen etwas später. In Charkow wird das gesamte Kommando Winterquartiere beziehen.«
Wie sich rasch zeigte, war Hanika ein weit besserer Bursche als Popp. Jeden Morgen fand ich geputzte Stiefel nebst einer gesäuberten, getrockneten und gebügelten Uniform vor; zum Frühstück organisierte er immer irgendetwas, womit sich die gewöhnliche Verpflegung aufbessern ließ. Er war noch sehr jung; aus der Hitlerjugend war er in die Waffen-SS gekommen und von dort zum Sonderkommando versetzt worden; aber er hatte durchaus seine Vorzüge. Ich unterwies ihn in der Registratur, sodass er für mich Akten ablegen oder heraussuchen konnte. Ries hatte nicht gewusst, was für ein Juwel er da hatte: Der Junge war freundlich und willig, man musste ihn nur zu nehmen wissen. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte nachts vor meiner Tür geschlafen, wie ein Hund oder wie ein Diener aus einem russischen Roman. Besser ernährt und erholt, bekam er ein volleres Gesicht und erwies sich trotz Pubertätsakne als gut aussehender Bursche.
Blobel wurde immer launischer; er trank und bekam grundlose, unberechenbare Wutanfälle. Er guckte sich unter den Offizieren einen Sündenbock aus und setzte ihm tagelang ununterbrochen zu, indem er kein gutes Haar an dessen Arbeit ließ. Andererseits war er ein guter Organisator, er hatte ein hochentwickeltes Gefühl für Prioritäten und praktische Notwendigkeiten. Glücklicherweise hatte er noch keine Gelegenheit gefunden, seinen neuen Saurer zu testen; der Lkw saß in Kiew fest, und Blobel erwartete voller Ungeduld sein Eintreffen. Beim bloßen Gedanken an dieses Ding lief es mir kalt den Rücken herunter, und ich hoffte inständig, bei der Ankunft schon fort zu sein. Ich litt weiterhin unter heftigen Übelkeitsanfällen, die häufig von schmerzhaftem und strapaziösem Aufstoßen begleitet waren; aber ich behielt esfür mich und sprach auch über meine Träume mit niemandem. Ich stieg jetzt fast jede Nacht in eine U-Bahn, immer in eine andere, aber stets in eine, die aus der Reihe tanzte, von ihrer Route abkam, nicht vorherzusehen war, ich war von einem permanenten Kreisen befallen, einem Kommen und Gehen von Zügen, Rolltreppen und Aufzügen, die zwischen verschiedenen Ebenen auf- und absteigen, Türen, die sich zur falschen Zeit öffnen und schließen, Signalen, die von Grün auf Rot springen, ohne dass die Züge halten, Gleisen, die sich ohne Weichen überschneiden, und Endstationen, an denen die Fahrgäste vergebens warten, von einem irrwitzigen Schienennetz, lärmend, gigantisch, endlos, das ein unaufhörlicher, sinnloser Verkehr durchfloss. Als Jugendlicher war ich von der Metro begeistert; ich hatte sie mit siebzehn Jahren entdeckt, als ich nach Paris gekommen war, und wann immer ich
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