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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Gelegenheit hatte, nahm ich sie, einfach aus Freude an der Bewegung, aus Freude daran, die Menschen zu beobachten, die Stationen vorbeifliegen zu sehen. Im Jahr zuvor hatte die CMP, die damalige Pariser Metrogesellschaft, die Nord-Süd-Linie wieder eingerichtet, sodass ich die ganze Stadt mit einem einzigen Fahrschein durchqueren konnte. Bald kannte ich die unterirdische Geographie von Paris besser als seine Oberfläche. In dem Internat, in dem ich die Vorbereitungsklassen besuchte, stahlen wir, meine Kameraden und ich, uns mit Hilfe eines Nachschlüssels, der von einer Schülergeneration auf die nächste vererbt wurde, nachts hinaus und warteten, mit kleinen Taschenlampen bewaffnet, auf einem Bahnsteig, bis die letzte U-Bahn durch war, um uns dann in die Tunnel zu schleichen und auf den Gleisen von Station zu Station zu wandern. Wir hatten schnell zahlreiche für die Öffentlichkeit nicht zugängliche Stollen und Schächte entdeckt, was sich als äußerst nützlich erwies, wenn Eisenbahner, die wir bei ihrer Nachtarbeit gestört hatten, hinter uns herjagten. Diese unterirdischen Expeditionen haben inmeinem Gedächtnis bis heute eine starke gefühlsbeladene Spur hinterlassen, ein freundschaftliches Gefühl von Sicherheit und Wärme, wohl auch mit einer vagen erotischen Färbung. Schon damals hatten die U-Bahnen meine Träume bevölkert, doch jetzt beförderten sie eine luzide akute Angst, nie konnte ich an mein Fahrziel gelangen, ich verpasste die Anschlusszüge, die Türen der Abteile schlossen sich vor meiner Nase, ich reiste ohne Fahrschein und fürchtete mich vor Kontrolleuren, und oft wurde ich jäh aus dem Schlaf gerissen, von kalter Panik ergriffen, und lag mit jagendem Herzen da.
    Dann bemächtigte sich der erste Frost der Straßen, und ich konnte endlich aufbrechen. Die Kälte war plötzlich eingefallen, über Nacht; fröhlich stieg am Morgen weißer Atemdampf auf, und die Fenster waren weiß bereift. Vor der Abfahrt zog ich alle Pullover übereinander an; Hanika hatte für einige Reichsmark eine Ottermütze für mich erstanden; in Charkow musste man rasch warme Kleidung auftreiben. Unterwegs war der Himmel klar, blau, vor den Wäldern kreisten Vogelschwärme; in der Umgebung der Dörfer schnitten Bauern an zugefrorenen Teichen Schilfrohr für die Reetdächer ihrer Isbas . Die Straße selbst blieb gefährlich: Stellenweise hatte der Frost die abenteuerlichen Grate des Schlamms erstarren lassen, die Panzer und Laster aufgeworfen hatten, und diese hartgefrorenen Kanten brachten die Fahrzeuge zum Ausscheren, zerrissen die Reifen und ließen gelegentlich auch einen Lkw umstürzen, wenn der Fahrer sie in einem falschen Winkel ansteuerte und die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor. An anderen Stellen war der Schlamm mit einer dünnen trügerischen Decke überfroren, erwies sich aber darunter, wenn die Räder einbrachen, als weich und zäh. Um uns herum erstreckten sich nur kahle Steppe, abgeerntete Felder, einige Wälder. Von Poltawa nach Charkow waren es rund hundertzwanzig Kilometer: Wir brauchteneinen Tag für die Strecke. Der Weg in die Stadt führte durch verwüstete Vororte, vorbei an rauchgeschwärzten eingestürzten Mauern, dazwischen, eilig beseite geräumt und zu kleinen Haufen geschichtet, die verbogenen und ausgebrannten Skelette des für die vergebliche Verteidigung der Stadt vergeudeten Kriegsgeräts. Das Vorkommando hatte sich im Hotel International eingerichtet, das an einem riesigen zentralen Platz gelegen war; an seiner Rückseite wurde er von der konstruktivistischen Verschachtelung des Dom Gosprom beherrscht, eines Komplexes aus würfelförmigen Gebäuden, zu einem Kreisbogen angeordnet, mit zwei hohen rechteckigen Torbögen und von zwei Wolkenkratzern überragt – ein erstaunliches Bauwerk für diese weit sich erstreckende träge Stadt mit Holzhäusern und ihren alten Kirchen aus zaristischer Zeit. Gleich links daneben erhob sich die massige abgestufte Fassade des während der Kämpfe in Brand geschossenen Hauses des Fünfjahresplans mit seinen leeren Fensterhöhlen; in der Mitte des Platzes wandte ein imposanter Bronze-Lenin den beiden Komplexen den Rücken zu und lud die Passanten mit großmütiger Handbewegung zu sich ein, unbekümmert um die zu seinen Füßen aufgefahrenen deutschen Fahrzeuge und Panzer. Im Hotel herrschten chaotische Zustände; in den meisten Zimmern waren die Fensterscheiben geborsten, dort drang schneidende Kälte ein. Ich belegte eine kleine, nahezu bewohnbare Suite,

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