Die Wohltäter: Roman (German Edition)
Busladung von Menschen aus den letzten Jahrzehnten im Laden abgesetzt, damit sie dort ihre Kleider ausziehen und danach nackt wieder aufbrechen. Hinterlassen hatten sie adrette Mäntel aus den Fünfzigern, lange Lycrakleider wie aus dem Film Ice Storm in Billardgrün, mottenzerfressene, unförmige Pelze, Latzhosen, Tuniken, haufenweise fusselige Pullover aus gemischten Kunstfasern mit Applikationen und Schulterpolstern und vieles mehr. Eine einzelne, aufgeplusterte Daunenjacke in schreiendem Gelb hing in der Brautkleiderabteilung, wo fünf weiße Brautkleider die Kunden zu Spekulationen anregten, wer wohl einst in ihnen geheiratet hatte und aus welchem Grund sie schließlich hier gelandet waren.
Zwei Rentnerinnen schoben nebeneinander ihre Rollatoren durch den Laden, sodass alle, die ihnen entgegenkamen, eine Extrarunde um die Kleiderständer drehen mussten, um eine Kollision zu vermeiden. Ein bleicher Mann, der aussah, als verbrächte er seinen Alltag damit, an einem großen Gegenwartsroman zu feilen, wühlte zwischen den Wollsakkos mit abfallenden Schultern. Eine müde Mutter ließ einen Kinderwagen, der vor Geschrei bebte, vor den Umkleidekabinen stehen und verschwand mit einem Bündel Röcken über dem Arm hinter der Tür. Einige Mädchen mit stark geschminkten Augen lasen sich etwas über Vintage vor, wobei sie mit den Händen über die unförmigste Kleidung strichen.
Der bleiche junge Mann auf der Suche nach Sakkos bemerkte Tuva mit ihren wirren, goldbraunen Haarsträhnen bis zum Hintern, die in ihren langen Röcken hin und her lief. Wie schon andere Männer vor ihm reckte er sich ein wenig, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und richtete seinen Blick wieder auf den Kleiderständer, als sie vorbeilief. Sie war kaum älter als zwanzig, aber in ihrem Blick lag bereits eine gewisse Härte, die nicht einmal zu einer Frage nach Kleidergrößen einlud, um ein Gespräch anzuknüpfen.
Tuva war einige Monate zuvor in den Laden gekommen und hatte nach einer Anstellung gefragt. Sie studierte und war auf der Suche nach einem Nebenjob. Über den niedrigen Lohn hatte sie nicht lamentiert, sondern war einfach am nächsten Tag erschienen und hatte mit der Arbeit begonnen. Sie übernahm alle Schichten, die man ihr anbot, und erbettelte sich häufig Zusatzschichten. Tuva besaß ausreichend Energie, um zehn bis zwölf Stunden am Stück im Laden oder draußen im Lager zu schuften.
Sie schleppte Kisten mit Kleidung, schrieb Preisschilder und befestigte sie mit einer Etikettierpistole, sie sortierte permanent die Kleidung im gesamten Laden nach verschiedenen Farben- und Größensystemen. Dann stand sie an der Kasse und nahm die Schlange in Angriff, die sich dort ständig aufs Neue bildete. Unter ihren Augen hatten sich bereits leichte Schatten gebildet, aber während des Nachmittags begannen ihre Wangen sich meistens wieder rosa zu färben. Ob vor Eifer oder Erschöpfung, wusste niemand, aber sie war die Fleißigste von allen, und die anderen, die mit ihr im Laden arbeiteten, waren froh, dass ihre Energie nie zu versiegen schien. Mitunter ließ sie eine Leidenschaft erkennen, die beinahe unangenehm war. Das war das Einzige, was die anderen ab und an in ihrer Abwesenheit kommentierten. Sie alle arbeiteten für die gute Sache, Tuva jedoch schien besonders hart dafür einzutreten.
2
Einer, der sich nicht sonderlich darüber freute, dass das Telefon nun zum dritten Mal klingelte, ja, der nicht einmal mit dem Leben überhaupt sonderlich zufrieden war: So konnte man Ninos beschreiben. In die raue Bettwäsche eingewickelt, unternahm er einen schwachen Versuch, den Kopf zu heben, doch es schien, als drückte ihn etwas auf die Matratze zurück. Er schielte mit einem Auge nach den Schachteln auf seinem Nachtisch. Las die Etiketten.
Citodon. Celebra. Cipramil. In der Branche der Arzneimittel, die Schmerzen dämpften und Glücksgefühle weckten, herrschte offenbar ein eindeutiger Namenstrend.
Er konnte sich nicht exakt daran erinnern, welche der Präparate für welche seiner zahlreichen Blessuren an verschiedenen Körperteilen vorgesehen waren, hoffte aber, die Pillen würden von allein den Ort ihrer Bestimmung finden.
»Und dann brauchen Sie noch ein Antidepressivum«, hatte der Arzt befunden, und Ninos hatte den gelben Zettel kommentarlos entgegengenommen.
Das Medikament, das seine Depressionen mindern sollte, schien seinen Weg jedenfalls noch überhaupt nicht gefunden zu haben, und er zog es vor, die Jalousien unten zu
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