Die Wohltäter: Roman (German Edition)
drehte sich um. »Wir haben es selbst in Brand gesteckt. Wir brauchten das Geld. Versicherungsgesellschaften gehörten zu unseren absoluten Spezialgebieten. Sobald wir das entdeckt hatten, bot sich uns eine gute zusätzliche Einkommensquelle.«
Ninos holte vorsichtig sein Notizbuch hervor, während sie weitererzählte.
»Wir brauchten so viel Geld, wie wir nur bekommen konnten. Denk daran, dass wir glaubten, man trachte Møller nach dem Leben, nach der Schmutzkampagne der dänischen Medien. Wir wollten unseren Führer um jeden Preis beschützen. Nur dafür durften wir Geld ausgeben. Alles andere mussten wir abliefern.«
Ingrid verzog das Gesicht. »Eine Zeit lang haben wir sogar Schweinefutter gegessen, um Geld zu sparen. Es schmeckt widerlich, aber es ist sehr proteinhaltig, weißt du«, sie lächelte wehmütig. »Es war Møllers Idee, und nach einer Zeit hatten wir uns daran gewöhnt. Wir wärmten es noch nicht einmal auf, weil das zu viel Energie verbraucht hätte. Es war wichtig, unsere Bewegung nicht mit zusätzlichen Kosten zu belasten.«
Ninos setzte ein genauso angeekeltes Gesicht auf wie Ingrid. Aber das Thema machte ihm bewusst, wie hungrig er war, und er fragte, ob sie nicht bald zu Mittag essen sollten.
»Eine Sache, die wir schnell lernten, war, dass Hunger ein Zeichen von Schwäche ist«, warf Ingrid daraufhin ein. »Wir aßen unglaublich wenig und prahlten damit voreinander.«
Ninos überlegte flüchtig, ob er es auch nur eine einzige Woche dort ausgehalten hätte. Er hatte seine Antidepressiva entsorgt, weil er hoffte, es würde ihn davor bewahren, zu essen, bis er platzte. Sie verbesserten seine Laune sowieso nicht, sondern machten ihn den meisten Dingen gegenüber lediglich gleichgültig. Dafür hatte er eine kleine Tüte mit schmerzstillenden Mitteln im Handgepäck, das er sich am Flughafen geweigert hatte aufzugeben.
»Jetzt fahren wir und sehen nach, ob die Freiwilligen immer noch am selben Ort untergebracht werden«, sagte Ingrid jetzt.
Ninos begann zu phantasieren, wie es wäre, wenn sich wenigstens ein paar Kekse im Handschuhfach befänden, aber er gehorchte und nahm wieder hinterm Steuer Platz. Besser, sie gingen alles sofort an, solange Ingrid noch voller Energie war. Sie sprach nun mit großem Enthusiasmus, und die Vorsicht und Unruhe, die sie in Stockholm gezeigt hatte, waren spurlos verschwunden.
Nach ungefähr einer Stunde näherten sie sich einem einsamen Industriegebiet, das offenbar stillgelegt worden war. Dies war das Hauptquartier der Ausbilder in Skandinavien, berichtete Ingrid. In einer Reihe lagen einige niedrige Baracken neben etwas größeren, zweistöckigen Gebäuden. Sie waren ringsum von dichtem Wald umschlossen, und es gab nur einen Weg, der wieder von dem Komplex wegführte.
Sie wissen sicher schon, dass wir hier sind, schoss es Ninos in den Kopf. Er merkte, wie er sich verkrampfte, und versuchte, den Griff um das Lenkrad zu lockern, damit seine Fingerknochen wieder die normale Hautfarbe annahmen.
Sie setzten zurück und parkten das Auto auf einem Rastplatz, wo Ninos zwei Mobiltelefone aus der Tasche zog und sie Ingrid reichte. Er wählte die Nummer des einen Telefons und nahm den Anruf an, damit die Verbindung hergestellt war. »Ich finde, du solltest hier warten. Aber du kannst alles, was passiert, mithören. Wenn etwas schiefgeht, nimmst du das andere Telefon und wählst die eins und die Raute. Dann landest du bei einem Freund in Kopenhagen, der darauf vorbereitet ist, dass eventuell jemand anruft. Okay?« Ingrid nickte und nahm ernst mit jeder Hand ein Telefon entgegen.
Ninos spazierte durch den Eingang und ging auf das vermeintliche Hauptgebäude zu. Noch bevor er angekommen war, öffnete eine Frau um die fünfzig die Tür und stellte sich ihm mit verschränkten Armen entgegen.
»Ja. Hvordan kan jeg være til tjeneste?« Sie trug dieselbe Topffrisur wie Ingrid auf den alten Fotos. Wie lächerlich, dass sie alle gleich aussehen, dachte Ninos.
Er brachte sein Anliegen vor. Sein Name sei Ömer Tunc und seine Schwester sei vor einiger Zeit nach Indien gereist, um bei einem Wohltätigkeitsprojekt mitzuarbeiten. Nun habe er schon seit mehreren Monaten nichts mehr von ihr gehört, und die Familie sei sehr beunruhigt.
Ingrid schlug sich im Auto mit der Hand gegen die Stirn. Jetzt war Ömer wieder unterwegs, um frische Luft zu schnappen.
Die Frau vor ihm zeigte nicht das geringste Interesse. »Und was haben wir damit zu tun? Dies ist ein Privatgelände.
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