Die Wohltäter: Roman (German Edition)
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»Jetzt fragen wir uns natürlich, warum Sie tatsächlich hier sind?« Die strenge Frau stand nun sehr dicht bei ihm.
»Ich habe Angst um meine Schwester. Ist das denn so merkwürdig?«, antwortete Ninos mit fester Stimme.
»Wir haben zurzeit gar keine Projekte in Indien.«
Sie blufft, dachten Ninos und Ingrid gleichzeitig.
Ninos senkte den Kopf. »Tja, dann weiß ich auch nicht ...« Er sah wieder hoch und setzte eine übertrieben selbstsichere Miene auf. »Sie hatte gesagt, sie glaubte, es sei Indien. Aber was weiß ich, wo sie am Ende gelandet ist. Genau deshalb bin ich doch hier! Woher soll ich wissen, ob sie in Bangladesch oder Afghanistan oder Burma oder Tibet ...« Er verstummte, als ihm keine weiteren Länder in diesem Gebiet einfielen.
»Halten Sie doch den Mund!«, schrie die Frau, und Ninos hing plötzlich ein lästiges Bild des Schauspielers Ernst-Hugo Järegård vor dem inneren Auge. »Hören Sie gut zu«, fuhr sie fort. »Sie verschwinden jetzt von hier, so schnell Sie können. Wir wollen Sie hier nie mehr sehen und uns Ihre schlechten Märchen anhören müssen.«
»Sonst rufen wir die Polizei«, ergänzte der Magere, der nun direkt neben ihm stand. Ninos wandte sich ihm zu und richtete seinen Blick auf einen Punkt über seinem Kopf. Hilfe von Hand zu Hand las er auf Dänisch von einem großen Plakat ab, das mit Tesafilm an der Wand befestigt war. Daneben war auf Schwedisch der Slogan Von deiner Hand in unsere Hände abgedruckt und ein dunkelhäutiger Mann im T-Shirt, der breit in die Kamera grinste. Ganz unten in der Ecke befand sich ein kleines, grünes Symbol – ein Kreis, der ein bulliges »HHH« umschloss. Das Leben konnte so reizend sein, dachte Ninos.
Ninos drehte sich zu der wütenden Frau um und versuchte, das breite Grinsen des Mannes auf dem Bild zu imitieren. »Kein Problem. Ich gehe jetzt. Und zwar direktemang.«
Er wurde nach draußen begleitet und ging gemächlich über den Hof, zum Anfang des schmalen Weges. In seiner Phantasie rannte er, so schnell er konnte, aber er strengte sich an, ruhig zu bleiben. Als er das andere Ende des asphaltierten Platzes fast erreicht hatte, sah er eine Frau auf sich zukommen. Sie sah aus wie die anderen, doch sie hielt eine Leine in der Hand, deren Ende zum Hals eines Hundes führte, der fast so groß wie ein Mensch war.
Ninos spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Er blieb vollkommen unbeweglich stehen. Auf keinen Fall konnte er an diesem Hund vorbeigehen. Er würde ihn anspringen. In Stücke reißen. Seinen großen Kiefer öffnen und ihn der Länge nach aufschlitzen. Nervös kalkulierte er, ob es sich lohnte, wieder zum Haus zu rennen, und drehte sich hastig um. Dort standen die vier in der Tür und beobachteten ihn. Er würde gezwungen sein, wieder ins Haus zurückzukehren, aber vielleicht war es das wert, um der Bestie zu entkommen. Er hatte die Wahl zwischen vier wütenden Topffrisuren und einem Ungeheuer, und es bestand kein Zweifel daran, dass er die Ausbilder vorzog.
Er wandte sich der Frau mit der Hundeleine zu.
»Kommen Sie nie wieder«, sagte sie gedämpft. Ninos schüttelte den Kopf. »Nein, das verspreche ich.« Und er meinte es tatsächlich ernst. »Aber bitte, nehmen Sie den Hund weg.«
Sie zog den Hund zu sich und ging einige Schritte zur Seite. »Etwas mehr«, bat Ninos demütig. Sie ging noch ein paar Schritte weiter, und der Hund folgte ihr.
»Ich gehe nicht weiter, bevor Sie die Leine nicht am Zaun festgebunden haben, und zwar mit vielen Knoten«, flehte Ninos ängstlich. Er stand da wie eine Salzsäule, um den Hund nicht zu provozieren.
»Was ist los? Wir haben Ihnen doch gesagt, dass Sie verschwinden sollen.« Die Leute vorm Haus schrien ihn an, weil er sich nicht vom Fleck rührte.
»Ja, aber das geht nicht mit diesem Hund da!«, schrie Ninos wütend. »Nehmen Sie ihn weg, damit ich gehen kann, oder ich rufe in Södertälje an, und dann werden mehrere Flugladungen voller Assyrer bei Ihnen auflaufen!«
Vor lauter Nervosität hatte er vergessen, dass Ömer kein Assyrer war. Aber es spielte keine Rolle. Er meinte es ernst. Bei ihm brannten alle Sicherungen durch, sobald er einen Hund sah.
Genau in dem Moment, in dem Ninos seine Drohung aussprach, platzte Ingrid im Auto vor lauter Anspannung. Ömer Tuncs und Ninos’ gemeinsame Hundephobie und jetzt auch noch die große Verwandtschaft. Das war einfach zu viel für sie. Sie presste sich den Mantel vors Gesicht und lehnte sich auf den Fahrersitz, um
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