Die Wohltäter: Roman (German Edition)
Bitte gehen Sie wieder«, sagte sie in schroffem Dänisch.
»Ist das hier nicht die Schule der Ausbilder?«
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.« Ihr Gesicht war nun vollkommen ausdruckslos.
»Bitte, ich brauche Hilfe. Ich mache mir doch nur Sorgen um sie.« Ninos beugte sich zur Tür und versuchte, eine verzweifelte Miene aufzusetzen. Hinter ihr sah er keine anderen Menschen, nur eine Treppe und weitere Türen.
»Gehen Sie von der Tür weg. Verschwinden Sie von hier«, wiederholte sie. »Jetzt gehe ich und hole jemanden.« Dann zog sie die Tür zu.
Ninos wartete einige Sekunden und drückte dann sachte die Türklinke nach unten. Die Tür öffnete sich. Es war ihm rechtzeitig gelungen, den Entriegelungsknopf zu drücken, bevor sie die Tür endgültig geschlossen hatte.
Er ging vorsichtig über die Schwelle und flüsterte gleichzeitig in seine Brusttasche: »Ich gehe jetzt hinein.«
»Nein, tu es nicht«, rief Ingrid, verstummte aber schnell. Ninos hatte sie ermahnt, nicht mit ihm zu sprechen, weil man das durch das Telefon hören konnte, das er bei sich trug. Er duckte sich und schlich an einer Tür vorbei, aus der er Stimmen vernommen hatte, dann richtete er sich wieder auf und ging einen langen Korridor entlang. Es war vollkommen still. Offenbar waren nicht viele Menschen hier. Der schmucklose Raum erinnerte ihn an seine alte Grundschule. Die Wände und der Fußboden waren beige-braun, Ton in Ton. Er legte das Ohr an eine der Türen, hörte nichts und ging hinein. Es war ein leerer Klassenraum. Auf dem Tisch lagen farbige Plakate, auf denen Menschen abgebildet waren und verschiedene Abkürzungen standen. Ähnliche Fotos hatte er bei der HHH in Stockholm gesehen. Er blätterte sie schnell durch, konnte aber kein Beispiel finden, auf dem tatsächlich die Buchstaben HHH zu sehen waren.
»Er muss verschwunden sein«, hörte er es aus dem Flur dringen, gefolgt von anderen Stimmen, die er nicht einordnen konnte. Er kroch unter einen Tisch, der in einer Ecke stand, sodass er nur von anderen potenziellen Kriechenden entdeckt werden konnte. Er hörte, wie zwei Paar Füße den Raum betraten. Er machte mit dem Zeigefinger ein eingeschränktes Kreuzzeichen, um nirgendwo anzustoßen. Dann gingen die Füße wieder hinaus. Er blieb sitzen und wartete, bis es auf dem Flur vollkommen ruhig war. Dann robbte er zur Tür und lugte vorsichtig in den Korridor hinaus. Niemand zu sehen. Er stand auf und ging schnell in Richtung Ausgang.
»Stopp! Haltet den Dieb!«, rief jemand.
Ninos schaute zu den Türen auf der linken Seite und den Fenstern auf der rechten und fühlte sich innerhalb von Sekunden einer Ohnmacht nahe. Vier Personen mit identischen Frisuren stürmten auf ihn zu. Er knöpfte demonstrativ den Knopf über seinem Hosenstall zu.
»Diebe könnt ihr euch selbst nennen. Ich war nur auf der Toilette«, sagte er trotzig, als sie ihn erreicht hatten.
Sie umringten ihn. Unter denen, die ihm das Gesicht zuwandten, war die Frau, die glaubte, sie hätte die Tür verschlossen. »Wie sind Sie reingekommen?«, fragte sie in scharfem Ton.
»Die Tür stand offen! Ich habe auf Sie gewartet, und dann bin ich auf die Toilette gegangen. Entschuldigen Sie, aber ich habe so viel Kaffee getrunken heute. Es war nicht meine Absicht, für Unruhe zu sorgen. Muss man sich einen Dieb schimpfen lassen, nur, weil man sein Wasser nicht halten kann?«, fragte er in ungezwungenem Ton. Er hatte schon lange gelernt, seine Angst nicht zu zeigen. Denn damit konnte man nur verlieren.
»Sie waren auf der Toilette?«, wiederholte die Frau.
Ninos nickte. »Genau.«
»Hier?«, fragte sie und zeigte auf eine Tür. Ninos nickte erneut, diesmal etwas langsamer.
Sie riss die Tür auf, hinter der sich eine Abstellkammer voller Wischmopps und Eimer verbarg.
Die Tür sah einer Toilettentür zum Verwechseln ähnlich, dachte Ninos wütend.
Einer der Ausbilder fasste ihn am Arm und führte ihn durch eine andere Tür. Ninos konnte nicht so schnell reagieren, wie er es sich gewünscht hätte, sondern ließ sich von dem abgemagerten Mann und seinen Kollegen vorwärts schubsen.
»Sie sorgen sich um Ihre Schwester, sagen Sie?«
Die Gedanken überschlugen sich in Ninos’ Kopf. Vielleicht konnte er sich einfach zurückwerfen, umdrehen und aus dem Raum rennen. Aber es bestand das Risiko, aufgehalten zu werden, denn die Kollegen des Dürren sahen etwas kräftiger aus. Noch bevor er zu Ende denken konnte, hörte er bereits, wie die Tür hinter ihm
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