Die Wohltaeter
stand ein großes, gerahmtes Foto von ihr, auf dem sie Ballett tanzte. Sie bewegte sich auch wie eine Ballerina, fand Ninos – langsam und graziös.
Er hatte nicht erwartet, dass sie dabei sein würde, und fragte sich, ob sie auch etwas beitragen oder nur zuhören würde. Ninos nahm sich vor, so wenig wie möglich zu sagen, um keine der beiden Frauen einzuschüchtern.
Schließlich kam Ingrid aus der Küche und setzte sich zwischen die beiden.
»Ich habe Anna gebeten, dabei zu sein, weil es bestimmte Dinge gibt, die sie meiner Meinung nach ebenfalls erfahren sollte. Ich verlasse mich auf unsere Übereinkunft, dass alles, was ich sagen werde, innerhalb dieser vier Wände bleibt.«
Ninos nickte. Ihm war nicht klar, warum sie beide zuhören sollten, aber wie so oft hinter der Bar erinnerte er sich auch jetzt daran, dass man das Bedürfnis der Menschen nicht unterschätzen sollte, jemandem etwas zu erzählen, auch Fremden. Mitunter gerade Fremden. Er hatte ein Zeichen erhalten, und jetzt würde er einfach beobachten, was passierte, um seinen Auftrag zu erfüllen.
»Es war in den sechziger Jahren«, begann Ingrid langsam. »Damals wohnte ich in einer Kommune in Westjütland. Wir brannten darauf, die Welt zu verändern. Wie viele Menschen zu dieser Zeit.« Sie klang etwas zögerlich und sah ihre beiden Zuhörer an, um sich zu vergewissern, dass sie ihr aufmerksam lauschten. Dennoch wirkte sie überraschend entspannt, bemerkte Ninos.
»Wir wollten erreichen, dass die Ressourcen unseres Planeten besser verteilt würden und die Welt vor der Atomkraft gerettet würde. In Schweden herrschte bereits ein wenig Revolutionsstimmung. Man strebte nach Veränderung, wollte den Faschismus und Kapitalismus hinter sich lassen, darüber waren sich alle einig. Zumindest in den Kreisen, in denen ich mich bewegte.«
Weder Ninos noch Anna sagten etwas.
»Aber«, fuhr Ingrid fort, »in Dänemark war die Situation etwas anders. Das Land war Mitglied der Nato, und die Regierung schwieg. Stattdessen sprachen sich vor allem Sozialpädagogen und Lehrer offen für politische Veränderungen aus. Ich wohnte mit mehreren frischgebackenen dänischen Lehrern zusammen. Damals gab es viele Kommunen. Wir teilten unsere Löhne, die Ausgaben und alle Arbeiten im Haushalt. Eine gute Alternative zum Vater-Mutter-Kind-Prinzip, fanden wir. Effektiver und weniger belastend für die Umwelt. Alles war viel liebevoller.«
Ninos nickte. Das klang ziemlich durchgeknallt.
»Unsere Kommune wollte noch weiter gehen und die Welt mit eigenen Augen erkunden. Nicht einfach nur im bequemen Dänemark rumhocken und über Elend reden. Also kauften wir einen alten VW-Bus, um damit in der Dritten Welt herumzureisen. Wir wollten zu den ärmsten Orten Afrikas und Indiens fahren. Eine etwas abgedrehte Idee vielleicht, aber wir hatten wirklich vor, mitzuhelfen. Unsere erste Reise führte uns nach Indien. Wir brauchten acht Wochen, um dorthin zu gelangen, und der Bus blieb unterwegs dauernd liegen. Wir hatten sogar einen Ofen eingebaut. Auch der brach ab und an zusammen, weil er immer auf der höchsten Stufe heizte.«
Ingrid blühte auf. Es sei phantastisch gewesen, berichtete sie. Damals habe sie wirklich verstanden, wie schlecht es um die Welt bestellt sei, und dass die Ursache hierfür in der Gier der Menschen begründet liege. Die Busreisenden waren überwältigt von der Armut in Afghanistan, Indien und an all den anderen Orten, an denen sie vorbeikamen. Sie bekamen die Möglichkeit, vor Ort zu helfen, was sie alle sehr zufrieden machte. Gemeinsam mit den armen Einheimischen kochten sie, bauten Häuser, gruben Abwassergräben und organisierten Aktivitäten. Zwar hatte die Gruppe nicht viel bei sich, was sie weitergeben konnte, aber sie verschenkte ihre Zeit und ihr Wissen. Meistens wurden die jungen Enthusiasten freundlich aufgenommen.
Ingrid gestikulierte. »Es ging darum, dass wir gemeinsam die Welt verändern konnten! Versteht ihr? Ein besseres Gefühl gibt es nicht.«
Ninos und Anna nickten vorsichtig.
Aber wie war sie gleich zu Beginn in Dänemark gelandet, wunderte sich Ninos, wo sie doch Schwedin war? Diese Frage hatte er nicht länger zurückhalten können.
»Love is all around« , sang sie und lachte ein wenig. »Der Liebe wegen. Ich verliebte mich in einen Dänen, der an einem Kurs teilnahm, den ich leitete. Wir veranstalteten offene Theaterübungen, an denen jeder teilnehmen durfte. Ich habe mich damals viel mit solchen Dingen beschäftigt.«
Ingrid war in
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