Die Wolfsjägerin: Roman (German Edition)
Billi an. »Was ist aus ihm geworden?« Er nahm die Hand von ihrer Wange, umfasste stattdessen ihr Kinn und hob sanft ihr Gesicht an.
Billi blinzelte, aber die Tränen strömten weiter. »Er ist gestorben.«
»Ich hoffe, sein Mörder hat gelitten.«
»Ja.« Billi unterdrückte ein Schluchzen, indem sie sich auf die Lippen biss. Sie hatte getan, was sie hatte tun müssen, aber sie hatte es seither immer bereut. Mit geschlossenen Augen versuchte sie, den Kummer zu verdrängen, den sie die letzten drei, vier Monate über niedergekämpft hatte. Kay war von ihrer Hand gestorben. »Ich leide jeden Tag.«
»Das tut mir leid«, erwiderte Iwan. Er beugte sich näher heran, bis sie ihn flüstern hören konnte. »Tschechow sagt, dass wir für unsere Vergangenheit büßen müssen, damit wir beginnen können, in der Gegenwart zu leben. Aber wir können nur Buße tun, indem wir außerordentlich leiden.« Er zog sie näher heran, und als er sprach, fiel ihr Blick auf seine Lippen. »Aber dann muss das Leid ein Ende haben.«
Billi konnte kaum atmen, als der Abstand zwischen ihnen langsam schwand. Sie wollte Kays Andenken nicht verraten – sie hätte nie damit gerechnet, jemanden zu treffen, der so gut war wie er. Aber Iwan war gut; er war wie sie, gefangen in Verantwortung und Pflichten, die zu viel für sein Alter waren, und doch war er so fürsorglich.
Sie zögerte – nur für eine Sekunde. Iwan wartete ab; er spürte ihre Verunsicherung. Aber Billi erkannte, dass sie sich ihm nicht entziehen wollte. Sie beugte sich vor, streifte seinen Mund ganz sacht mit ihrem. Ihr wurde bei dem Gefühl schwindlig. Den Arm um sie gelegt, um sie zu stützen, küsste Iwan sie, und in diesem einen Moment vergaß Billi alles andere.
Jetzt war es an der Zeit, sich den Lebenden zuzuwenden – sich Iwan zuzuwenden.
Billi hielt Iwans Hand, als sie stumm zurück zum Auto gingen. Es gab jetzt nichts zu sagen. Sie wussten, was sie empfanden – aber Billi würde morgen abreisen. Sie spürte an Iwans Fingern die Schwielen, die er sich wie sie durch jahrelanges Schwertkampftraining zugezogen hatte. Doch da war eine Kerbe am Zeigefinger, die sie nicht hatte: eine Abzugsspur. Er hatte genauso viel Zeit auf der Schießbahn verbracht wie auf dem Fechtplatz.
Sein Griff war fest und sicher, warm und weich.
Dann drückten seine Finger stärker zu.
Eine Frau trat aus dem Schutz der Bäume hervor. Die Flammen tanzten in der großen Stahltonne vor ihr. Sie trug ein Paisleytuch über dem Haar. Billi erkannte sie wieder. Sie war die Polenitsy, der sie heute Morgen geholfen hatten, aus dem Wohnblock zu entkommen.
Drei weitere Frauen schlichen in der Dunkelheit am Rande des Feuerscheins herum; sie bewegten sich wie die Wölfinnen, die sie in Wirklichkeit waren.
Billi warf einen Blick zum Auto und sah, dass Dimitri am Boden lag; ein Mann mit dichtem Bart beugte sich über seinen Rücken und hielt ihm ein Messer an die Kehle. Billis Hand sank an ihre Hüfte und spürte die Klinge ihres Kukri, den sie an den Gürtel geschnallt trug.
»Wir kommen unter einer Parlamentärsfahne«, sagte die Frau mit dem Kopftuch. Sie hielt Abstand und hatte die Hände ausgebreitet.
»Was wollt ihr?«, fragte Iwan und wich vor den vier näher kommenden Frauen zurück; er hielt Billi hinter sich.
»Euch dafür danken, dass ihr uns erlaubt habt zu entkommen.« Sie schaute mit zusammengekniffenen Augen zu Billi hoch. »Und um eine Botschaft von unserer Rudelführerin Olga zu überbringen.«
Von der Alten Grauen. Die Tatsache, dass sie noch nicht in Stücke gerissen worden waren, verhieß Gutes. Billi trat an Iwans Seite. Seine Faust zitterte; er versuchte, seinen rasenden Zorn zu zügeln. Er schlug die Seite seines Mantels zurück und hielt binnen eines Augenblicks die Pistole in der Hand.
»Die Alte Graue hat meinen Vater getötet.« Er flüsterte es, und sein Griff um die Pistole wurde fester.
»Er ist gut gestorben, junger Romanow. Sie hat ihn mit einem Zweikampf geehrt, nachdem Koschtschei ihn im Stich gelassen hatte.«
»Du irrst dich«, zischte Iwan. »Er saß in der Falle – verraten. Das hat man mir erzählt.«
Die Frau zuckte mit den Schultern. »Verraten wurde er, wie du sagst, aber nicht von den Polenitsy.«
»Was meinst du damit?«
Die Paisleyfrau warf einen Blick auf Iwans Pistole und erklärte dann: »Es sind immer wieder Leute verschwunden, Zarewitsch. Das wusste dein Vater. Wir hatten Informationen darüber, wer hinter diesen Vorfällen steckte. Wir waren
Weitere Kostenlose Bücher