Die Wolfsjägerin: Roman (German Edition)
seinen Namen aussprach.
Es war schon sechs Uhr, und das hier war ihr letzter Abend in Moskau. Sie hatte keine Ahnung, was sie erwartete, abgesehen davon, dass harte Kämpfe und der Jüngste Tag bevorstanden. Sie konnte den Abend damit verbringen, zu grübeln und sich um Dinge zu sorgen, auf die sie keinen Einfluss hatte, damit, einfach auf morgen zu warten. Oder sie konnte ihn mit Iwan teilen. Da stand er: Sein breiter Brustkorb hob und senkte sich unter dem halb offenen Hemd, als er tief Atem holte, um sich zu fangen. Trotz des Wodkas, der durch seine Adern strömte, zitterte seine Hand nicht.
Billi ergriff sie.
Dimitri fuhr sie ins Herz der Stadt. Anders als London mit seinem Labyrinth aus engen Straßen und dicht gedrängten Gebäuden war Moskau weitläufig und großflächig. Die Boulevards schenkten Billi endlose Panoramen, besonders längs des Flusses. Eis glitzerte auf den Straßen, und eine frische Schneewolke begann sich herabzusenken.
Die Autoreifen holperten über das Kopfsteinpflaster des Roten Platzes. Vor ihnen ragten die vielfarbigen Zwiebeltürme der Basiliuskathedrale auf. Das Gebäude setzte sich in Wirklichkeit aus mehreren Kirchen zusammen, die alle eine eigene Kuppel und Turmspitze hatten. Schneeverschleiert wirkte die Kathedrale wie aus einem Märchen entlehnt. Von Moskau ging ein zarter Zauber aus, wenn es vom Winter umhüllt war. Auf einer Seite stand das riesige Warenhaus GUM ; Tausende von Glühbirnen zeichneten die Umrisse der Fassaden und Fenster nach. Gegenüber davon lagen die gewaltigen, dunkelroten Mauern der Kremlfestung.
»Einst hat all das uns gehört«, sagte Iwan. Seine Augen spiegelten funkelnd die Lichter und betörenden Farben wider. »Meine Vorfahren wurden dort gekrönt.« Er deutete auf eine Reihe goldener Dächer jenseits der roten Festungsmauern. »Die Erzengel-Michael-Kathedrale. Es hieß, der Erzengel Michael sei der Beschützer unserer Familie.« Er lehnte sich in seinem Sitz zurück. »Ich habe vor kurzem eine seltsame Geschichte über ihn gehört.«
Billi hielt ihre Aufmerksamkeit auf die Umgebung gerichtet, aber sie senkte die Stimme und wurde einsilbig. »Oh? Was für eine?«
»Glaubst du an Gott? An Seine Erzengel?«
»Das fragst du eine Templerin?«
»Der Patriarch von Moskau ist ein enger persönlicher Freund der Romanows«, sagte Iwan; er sprach vom Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche. »Er erzählte mir, Michael sei gefallen; es wurde ihm in einem Traum offenbart, dass Michael niedergeworfen worden sei.«
Billi rührte sich nicht, aber ihr lief Schweiß über den Rücken. Wusste er es? Dass sie den Erzengel niedergeworfen hatte?
»Ich frage mich, was die anderen Erzengel denken, da sie doch wissen, dass ihr Bruder zur Hölle geschickt worden ist.«
Billi konnte spüren, wie nahe er ihr war.
»Was glaubst du, Billi?«
»Ich glaube, dass du vorsichtig mit dem sein solltest, was du in die Träume eines alten Mannes hineinliest.«
Iwan lachte. Billi mochte den Klang seines Lachens. Er gab sich eine Blöße; die gebieterische Barriere, die er gewöhnlich um sich errichtete, war in sich zusammengebrochen.
»Du bist schwer zu verstehen«, sagte er. »Ich glaube, du hast viele Geheimnisse.«
»Nicht mehr als die meisten Leute.«
Iwan musterte sie nachdenklich. »Vielleicht trifft das zu – wir alle fürchten uns davor, anderen bestimmte Dinge zu erzählen.«
Sie fuhren die Kremlevskaya Nab entlang, die breite Straße, die am Flussufer verlief. Billi sah zu, wie die zerbrochenen Eisschollen langsam die Moskwa hinuntertrieben.
Sie rollten gerade an einem Park entlang, als Billi ein Aufblitzen von Feuer hinter den Bäumen bemerkte.
»Was ist das?« Noch mehr Flammen. Lichtstreifen wirbelten durch die Dunkelheit.
»Dimitri, halt an«, sagte Iwan.
Das Auto fuhr an den Randstein; Iwan sprang hinaus und öffnete Billi die Tür.
»Der Bolotnaja-Platz.« Er hielt Billi ihren neuen Mantel hin, damit sie ihn überziehen konnte.
»Du bist ja ein richtiger Gentleman, Iwan«, sagte Billi.
»Wir machen es in Russland eben anders.« Seine Hände strichen leicht über ihre Schultern, als er ihr den Mantel umlegte. Dann drehte er sie um, so dass sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden.
»Ist dir warm genug?«, fragte er und zog ihr den Kragen zurecht; seine Finger verharrten auf dem obersten Knopf neben ihrem Hals.
Billi errötete. Trotz der Schneeflocken war ihr plötzlich mehr als warm genug.
Iwan trat einen Schritt zurück und nahm
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