Die Wolke
Janna-Berta spürte Übelkeit, würgte, lehnte sich gegen einen Lindenstamm und erbrach sich.
Blind für die Schönheit eines Dorfes, dessen rotbesonnte Dächer am Ende der Allee sichtbar geworden waren, erreichte sie noch das breite Geländer, das, quergestellt, die Allee jäh enden ließ. Dahinter brach der Weg, brachen die Felder steil ab zu einem Fluß hinunter, der träge und lautlos dahinfloß. Am anderen Ufer lag, Reste einer längst zerstörten Brücke einrahmend, das Dorf. Ein Schild, in der einsetzenden Dämmerung unter den Lindenkronen kaum mehr lesbar, wies darauf hin, daß die Grenze in der Flußmitte verlief.
Janna-Berta lehnte sich übers Geländer und übergab sich noch einmal. Dann ließ sie sich fallen, krümmte sich zusammen und begann hemmungslos zu weinen.
6
Sie konnte sich nicht erinnern, wer sie am Straßenrand gefunden und in dieses Gebäude gebracht hatte. Ihr war nicht einmal mehr eine Erinnerung daran geblieben, wo man sie gefunden hatte. Nur noch dunkel sah sie die Lindenallee vor sich, die plötzlich abbrach. Inzwischen wußte sie, daß sie in einem Schulsaal in Herleshausen lag. Vor ein paar Tagen war hier noch unterrichtet worden. An der Tafel standen, in Lehrerhandschrift, noch ein paar Schülernamen. Schwungvoll darüber hinweg hatte jemand ein Riesengesicht gezeichnet. Das lachte von Ohr zu Ohr und streckte eine unförmige Zunge heraus.
Ein heller, fröhlicher Raum. Auf einem Wandbord waren die Resultate der letzten Werkstunden ausgestellt: rundgeschliffene Steine, wie man sie in Gebirgsbächen findet, zusammengefügt zu lustigen Wesen, zu Männchen und Tieren mit drolligen Farblackgesichtern. Es gab Obelixe und Rübezahle, Kräuterhexen und Kartoffelkönige. Janna-Berta hatte in der vierten Grundschulklasse auch einmal solche Steinfiguren gebastelt. Das war in der Vorweihnachtszeit gewesen. Schöne Weihnachtsgeschenke: einen »Troll« für Oma Berta, einen »Grünen« für Jo.
Nun vertrockneten hier auf den Fensterbrettern die Topfpflanzen. Die Möbel waren hinausgeräumt worden. Nur noch der Lehrerschrank stand neben der Tafel, und in der Ecke hatte man einen Kartenständer vergessen. Statt der Tische und Stühle standen neunzehn Betten dicht an dicht. Während der ersten beiden Tage waren es nur Matratzen auf dem Fußboden gewesen.
Aus den Gesprächen der Erwachsenen wußte Janna-Berta, daß dieses Schulgebäude zu einem der vielen Nothospitäler geworden war, die man nach der Katastrophe in aller Eile entlang der evakuierten Zone eingerichtet hatte. Sie lag im Schulkinder-Saal, zusammen mit fünfundzwanzig anderen kranken oder verletzten Kindern, herbeigekarrt aus der ganzen Umgebung. Nicht jedes Kind hatte ein Bett für sich. Die Jüngsten und die Geschwisterpaare lagen zu zweit. Janna-Berta hatte ihren Platz unter einem Fenster. Sie war schmal geworden. Wenn sie sich im Spiegel betrachtete, erschrak sie jedesmal. Wer sah sie da an? Eingefallene Augen, spitzes Kinn, blasse Haut, stumpfes, struppiges Haar. In dem viel zu weiten Nachthemd, das man ihr angezogen hatte, sah sie aus wie ein Gespenst.
Sie mochte nichts essen. Wenn sie nur etwas Eßbares sah, wurde ihr übel. Aber sie trank Unmengen von Wasser und Tee, ab und zu auch eine Kraftbrühe. Man hielt ihr den Kopf hoch und setzte ihr den Becher an die aufgesprungenen Lippen.
Meist starrte sie mit leerem Blick an die Decke oder hinüber auf die Steinfiguren. Wenn sie angesprochen wurde, schloß sie die Augen, drehte den Kopf weg und beantwortete keine Fragen, auch nicht die immer wiederkehrenden: wie sie heiße und woher sie sei. Der Arzt mußte ihr bei den Untersuchungen die Augenlider hochziehen. »Schock« nannte er es. Er entließ sie nicht. Sie sollte weiter beobachtet werden. Aber wenn er oder sein Kollege einmal am Tag in den Saal kam, hatte er kaum einen Blick für sie. Janna-Berta hatte weder Durchfall noch erbrach sie sich. Sie hatte auch keine Blutungen und gehörte nicht zu denen, die am Grenzübergang verwundet oder verletzt worden waren. Es ging ihr verhältnismäßig gut.
Bei der Hektik in dem Nothospital hatte niemand Zeit, sie zu trösten. Sie war eines der ältesten Kinder im Saal. Sie mußte zurückstehen. Nicht einmal ein frisches Nachthemd erhielt sie. Das bekamen nur Kinder, die es nötiger brauchten.
»Schweinerei!« schimpfte eine der Krankenschwestern.
»Es liegt am Nachschub«, erklärte ihr der Arzt. »An der Organisation. Der Unfall ist über ihren stümperhaften
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