Die Wolke
Katastrophenschutzplänen zusammengeschlagen. Nichts war vorbereitet, nichts hat geklappt, nur die Bonzen haben sich so schnell wie möglich abgesetzt!«
Janna-Berta versuchte sich zu erinnern: Hatte sich Mutti nach Tschernobyl nicht bei den Behörden verschiedener Städte erkundigt, welche Vorsorge für die Bevölkerung man für den Fall eines SuperGAUs getroffen habe? Hatte sie nicht erfahren, daß es offensichtlich keine oder nur ganz wenige Schutzräume gab und daß die städtischen Kliniken keine strahlenkranken Patienten aufnehmen würden, weil sie nicht dafür eingerichtet waren? Hatte Mutti nicht vergeblich versucht, in die Katastrophenschutzpläne hineinschauen zu dürfen? Die Pläne seien nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, hatte es geheißen. Vati und Mutti waren empört gewesen. Aber die meisten, denen sie's erzählt hatten, hatten nur mit den Schultern gezuckt.
Es stank in dem Saal. Viele Kinder erbrachen sich. Andere hatten Durchfall und ließen alles unter sich laufen. Denn vor den Toiletten mußte man Schlange stehen, und es gab nicht genug Personal, das auf jeden Ruf hin mit Speischüssel oder Bettpfanne hätte herbeieilen können.
Es war ein ständiges Kommen und Gehen. Neue Fälle wurden eingeliefert, kritische Fälle ausgesondert. Viele Kinder waren zusammen mit ihren Eltern gebracht worden. Die Erwachsenen lagen in anderen Sälen und kamen, um nach ihren Kindern zu sehen. Manchmal, wenn Janna-Berta nachts schlaflos lag, sah sie Väter und Mütter hereinschleichen, die ihre Kinder sehen wollten, um sicher zu sein, daß sie noch lebten.
Neben Janna-Berta lag eine Türkin. Ayse hieß sie und hatte in Fulda gewohnt. Als sie von einer Frau vom Roten Kreuz ausgefragt wurde, hörte Janna-Berta zu. Ayse hatte im Durcheinander der Evakuierung ihre Eltern aus den Augen verloren und war in der fast leeren Stadt herumgeirrt, bis sie von einer Polizeistreife mitgenommen worden war. In einem Sammellager in Schenklengsfeld hatte sie sich dann tagelang übergeben. Das Lager war überfüllt gewesen. Deshalb hatte man sie hierher gebracht.
Janna-Berta antwortete nicht, als Ayse sie nach ihrem Namen fragte. Da weinte die Türkin. Sie weinte viel, vor allem nachts. Es waren keine stillen Nächte. Immer wieder hörte Janna-Berta Kinder schluchzen oder nach ihren Eltern rufen oder mit Angstlauten aus bösen Träumen fahren. Nebenan im Kleinkindersaal riß das jämmerliche Geschrei auch tags nicht ab.
Zwei Mütter und ein Vater waren ganz in den Schulkindersaal umgezogen. Denn das Personal war knapp. Von Tag zu Tag wartete man auf Schwestern und Krankenpfleger aus den nichtbetroffenen Gebieten der Bundesrepublik. Janna-Berta hörte die Erwachsenen darüber reden. Die fühlten sich verraten und verlassen. Janna-Berta wußte Bescheid. Sie brauchte sich nur an die Frau hinter dem Türspalt zu erinnern, irgendwo am Anfang irgendeiner Lindenallee. So hatte Lara, eine blasse Neunjährige, ihre Mutter bei sich, und Florian, ein Junge in Ulis Alter, der seine braunen Locken in Büscheln verlor, wurde von seinen Eltern umsorgt. Die drei Erwachsenen schienen glimpflich davongekommen zu sein. So gut es ging, kümmerten sie sich auch um die anderen Kinder. Florians Vater sagte zwar zu Janna-Berta: »Du hast nicht viel abgekriegt, du kannst dir selber helfen.« Aber Florians Mutter setzte sich manchmal zu ihr und strich ihr übers Haar. Dann mußte Janna-Berta weinen.
Wenn sie sich durch den Gang auf die Toilette schleppte, hörte sie den Gesprächen der Kranken und der Schwestern zu. Bald wurde ihr klar: Es mußte eine sehr viel größere Katastrophe als in Tschernobyl stattgefunden haben. Man sprach von Tausenden von Toten und vom Vieh, das in den Ställen und auf den Weiden verendet war. Aber niemand wußte Genaues, alle vermuteten nur. Jemand erzählte, daß der Druckbehälter des Reaktors geborsten sei. Das Gerücht hielt sich hartnäckig, daß man die Sache noch nicht wieder im Griff habe. Die Ruine strahle weiter. Alle Kernkraftwerke in der Bundesrepublik seien vorläufig abgeschaltet worden.
»Du mußt dich beeilen mit dem Gesundwerden«, hörte Janna-Berta eine der Krankenschwestern zu Ayse sagen. »Sonst wirst du noch die letzte Türkin in Deutschland. Deine Landsleute hauen scharenweise ab.«
»Die Asylanten auch«, berichtete eine Putzfrau. »Überhaupt alle Ausländer. Und jede Menge Deutsche.«
Immer wieder drehten sich die Gespräche um die Wolke, die angeblich je nach Windrichtung hin- und herzog und
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