Die Wolke
und wurden abgeladen. Neue Bettlaken wurden aufgezogen, die Berge schmutziger Wäsche abgefahren. Janna-Berta und Ayse bekamen frische Nachthemden. Die Krankenschwestern brachten Beutel und Pakete in den Saal und stapelten den Inhalt in den Lehrerschrank und auf das Wandbord. Die Kinder holten sich die Steinfiguren aus dem Papierkorb und spielten mit ihnen.
Auch neues Pflegepersonal traf ein: eine Krankenschwester, ein Pfleger und zwei Zivildienstleistende. Einer wurde den beiden Kindersälen zugeteilt, ein Kölner. Er wurde Tünnes gerufen und ließ es sich gefallen. Tünnes war gesprächig und brachte eine Menge Neuigkeiten von draußen mit.
»Achtzehntausend Tote«, erzählte er, während er ein Kind fütterte. »Und jeden Tag werden es mehr. Vorgestern haben sie den nationalen Notstand ausgerufen.«
Nicht nur die Kinder hörten ihm zu. An der Saaltür drängten sich auch erwachsene Patienten und lauschten.
»Bis Coburg, Bayreuth und Erlangen haben sie geräumt«, berichtete er, »jetzt evakuieren sie auch Würzburg und das Drumrum, weil's Nordwind geben soll. Sogar in der DDR, von Suhl bis Sonneberg – alles geräumt. Und das Mistding hört nicht auf zu strahlen! Einen Spezialistentrupp nach dem anderen lassen sie dran: Alles für'n Arsch. Pardon, aber so isses.«
Er wollte mit einer Bettpfanne hinaus. Aber die Kinder riefen ihn zurück.
»Erzähl weiter, Tünnes!«
»In den ersten Tagen hat halb Europa in den Kellern gesessen«, sagte er und schwenkte die Pfanne. »Sogar die Franzosen. Bei uns in Köln hat sich so gut wie nichts mehr auf den Straßen gerührt. Nur die am Verhungern waren, kamen aus den Löchern gekrochen. Ämter, Fabriken, Läden, Schulen – alles zu. Rat gab's nirgends. Sogar die Alten waren sprachlos, die sonst immer ganz genau wissen, wo's längs geht. Meine Schwester ist fast verrückt geworden: zwei Kinder, drei und fünf, und dann tagelang im Keller! Zum Schluß hat sie sie bloß noch vertrimmt. Aber wie wir dann wieder raufkonnten, ging's auch nicht viel besser. War ja alles verseucht und verstrahlt, von wegen die Kinder rauslassen. Es heißt ja, in ganz Mitteleuropa müßte die oberste Erdschicht abgetragen werden. Eigentlich. Und was soll auf den Tisch? Halb totgeschlagen haben sie sich um alte Konserven, und wie argentinisches Frischfleisch reinkam, gab's Schlangen um den ganzen Block. Aus deutschen Landen frisch auf den Tisch? – Kannste alles vergessen. Meine Leute ziehen jetzt immer die Schuhe vor der Haustür aus, aber was mit unserem Garten werden soll, dazu fällt ihnen auch nichts ein. Wenn's regnet, fängt die Mutter an zu weinen. Und der Vater hat schon am zweiten Tag unsere beiden Hunde erschlagen, an denen er so gehangen hat. Die hätten ja Auslauf gebraucht. Und wer hat schon zentnerweise Hundefutter im Haus! Erst wollte sie mein Vater einschläfern lassen. Aber kein Tierarzt wollte aus dem Haus, und mein Vater traute sich natürlich auch nicht. Da hat er sie mit dem Beil erschlagen. Meine Mutter hat geheult, wie sie das Gewinsel gehört hat. Die ganze Waschküche war voll Blut.«
Florian fing an zu weinen.
»Und wie ist es jetzt?« fragte Laras Mutter. »Haben sich die Dinge ein bißchen normalisiert?«
»Normalisiert«, sagte Tünnes. »Was heißt ›normalisiert‹? Normal wird hier gar nichts mehr, wenn Sie verstehn, was ich meine. Mein Vater zum Beispiel: Der ist schon seinen Job los. Internationale Spedition, das war mal. Kein Land läßt unsere LKWs über die Grenze. Auch auf den Flugplätzen läuft übrigens nicht mehr viel. Will ja niemand mehr rein. Nur raus wollen viele. Und die will wieder keiner haben. So sieht's aus, Herrschaften. Genau so. Aus. Ende. Amen.«
Auch zwei Fernsehgeräte gab es jetzt im Hospital: Das eine hatte die neue Schwester mitgebracht. Es stand im Personalraum. Das andere war angeliefert worden; auf gemeinsamen Beschluß hin sollte es reihum durch die Säle wandern. Alle, die sich auf den Beinen halten konnten, drängten sich in den Saal, wo das Gerät gerade stand. Es gab Ärger mit den Ärzten und Schwestern. Schließlich stellte die neue Schwester ihr Gerät tagsüber auf ein Tischchen im Gang, und Tünnes brachte nach dem ersten Wochenendurlaub seinen alten Schwarzweißen mit.
»Für euch«, sagte er, räumte das Wandbord ab und hob ihn darauf.
Von nun an lagen alle Kinder so, daß sie die Mattscheibe sehen konnten. Aber es kamen nicht die lustigen Kindersendungen, die sie kannten. Es kamen fast nur Nachrichten, Berichte
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