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Die Wolke

Die Wolke

Titel: Die Wolke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Pausewang
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noch nicht entlassen.
    »Nicht vor vierzehn Tagen, hat er gesagt«, schluchzte sie, nachdem sie den Vater bis zur Tür begleitet hatte. »Jetzt müssen wir die Heimreise verschieben! Nur wegen mir!«
    »Die Heimreise?« fragte Janna-Berta. »In die Türkei? – Und was wird mit Rüdiger?«
    Ayse antwortete nicht.
     
    Zwei Wochen und zwei Tage war Janna-Berta nun in diesem Hospital, das wußte sie inzwischen.
    »Wenn du noch eine Woche ohne ernsthafte Beschwerden bleibst, hast du's wahrscheinlich hinter dir«, sagte der Arzt. »Du bist glimpflich davongekommen. Eine Woche, dann kann ich dich entlassen.«
    »Wohin entlassen?« fragte sie und dachte an Schlitz. Aber dort durfte man nicht hin. Auch nicht nach Bad Kissingen, wo Almut und Reinhard zu Hause waren.
    Die Frau vom Roten Kreuz, die für den Suchdienst Formulare ausfüllte und dafür jedes Kind, das sich ohne Eltern im Hospital aufhielt, unendlich geduldig ausfragte, kam wieder an Janna-Bertas Bett.
    »Deinen Namen kennen wir ja nun«, sagte sie. »Aber deine Eltern sind noch nicht erfaßt. Ich habe nachgefragt.«
    Janna-Berta sah sie an.
    »Sie können doch nur lebendig oder tot sein«, sagte sie.
    »Gewiß«, antwortete die Frau. »Aber erst ein Bruchteil der Evakuierten sind in der Suchkartei registriert. Das geht nicht so schnell. Und auf der Totenliste stehen auch noch längst nicht alle, die umgekommen sind. Du mußt Geduld haben. Es werden täglich neue Namen in die Suchkartei aufgenommen. Du hast doch sicher auch anderswo Verwandte, nicht nur in der verseuchten Gegend.«
    Helga in Hamburg. Doch zu ihr zu müssen, während man nicht wußte, was hier mit den Eltern und Kai und Jo geschehen war – nein, das wollte sich Janna-Berta nicht vorstellen.
    »Ich habe das Adreßheft nicht mehr«, antwortete sie der Frau. »Es liegt zusammen mit meinem Fahrrad auf dem Bahndamm von Asbach.«
    Sie verschwieg, daß sie Helgas Adresse auswendig wußte. Sie wollte nicht zu Helga geschickt werden. Sie wollte sie nicht einmal anrufen. Denn so, wie sie Helga kannte, würde sie sofort herkommen und sie holen und über sie bestimmen, bis ihre Eltern in der Lage wären, sie wieder zu sich zu nehmen. Und wenn sie nicht mehr lebten, mußte sie bei Helga bleiben, die allein lebte. Die immer allen ein Vorbild sein wollte.
    Nein, Janna-Berta hatte andere Pläne. Sie wollte das Hospital heimlich verlassen und die Eltern und Kai und Jo suchen gehen. Sie hatte einmal eine Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg gelesen, in der ein Mädchen seine verschollene Familie gesucht hatte. Nach einer langen Irrfahrt hatte es sie auch gefunden, und alles war gut ausgegangen. Janna-Berta hatte beim Lesen geweint.
    Nur ein paar Tage wollte sie noch abwarten. Vielleicht tauchten ihre Namen doch bald in der Suchkartei auf? Oder Vati und Mutti erschienen selber?
    »Hast du nachgefragt, Tünnes?« rief sie.
    »Am Wochenende«, versprach er. »Da hab ich Zeit.«
    Sie schaute jetzt oft zum Fenster hinaus. Es konnte ja sein, daß Vati oder Mutti –. Sie sah, wie Angehörige mit erwartungsvollen Gesichtern kamen, wie sie gingen – manche erleichtert, manche bedrückt. Sie sah, wie Kranke eingeliefert, Särge hinausgetragen wurden. Und dann sah sie wieder die Frau vom Roten Kreuz kommen. Janna-Berta winkte ihr zu, als sie im Saal auftauchte.
    »Haben Sie was über meine Eltern erfahren?« rief sie ihr entgegen.
    Aber die Rot-Kreuz-Frau tat, als sehe und höre sie nichts. Sie ging zum Arzt, der in der anderen Ecke des Saals ein Kind untersuchte, und sprach mit ihm. Janna-Berta sah, wie sie für einen Augenblick zu ihr herüberschauten. Dann kam die Frau an ihr Bett.
    »Nichts Neues«, sagte sie traurig. »Wir müssen weiter warten.«
    »Arme Janna-Berta«, sagte Ayse.
    Janna-Berta fühlte eine matte Wut.
     
    Montag früh erschien Tünnes pünktlich im Saal. Er wirkte anders als sonst.
    »Hast du was erfahren?« rief ihm Janna-Berta zu.
    Nein. Er hatte noch gar nicht beim Roten Kreuz angerufen. Er war auf einer Demo an der französischen Grenze gewesen. Janna-Berta wußte Bescheid: Am Sonntagabend in der Tagesschau war von dieser Demonstration gegen die französische Energiepolitik berichtet worden. Es hatte schwere Ausschreitungen gegeben. Sogar französisches Militär war eingesetzt worden. Sechs Deutsche und zwei Franzosen waren ums Leben gekommen.
    »Meine Eltern waren auch auf der Demo«, berichtete Tünnes kopfschüttelnd. »Mitten drin! Das muß man sich vorstellen – meine alten

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