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Die Wolke

Die Wolke

Titel: Die Wolke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Pausewang
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aus dem Unglücksgebiet, Suchmeldungen, Expertengespräche – und jede Stunde wurde über die Wetterlage, die Windrichtung und die neuesten Strahlungsmeßwerte informiert, begleitet von ernster Musik.
    Atemlos verfolgte Janna-Berta eine Reportage über die Unterbringung der Millionen von Evakuierten und Flüchtlingen außerhalb der Katastrophenzonen. Man verteilte die Obdachlosen über das ganze noch bewohnbare Bundesgebiet. Das ging nicht ohne harte Maßnahmen: Aller Wohnraum war registriert worden und wurde nun zwangsverwaltet. Ayse lachte, als man eine wütende Villenbesitzerin zeigte. Sie wollte keine Leute aus dem Katastrophengebiet in ihr Haus aufnehmen, noch dazu mit drei Kindern! Aber sie mußte.
    Als die Tagesschau begann, wandten sich die meisten Kinder ab. Tünnes wollte ausschalten, aber Janna-Berta und Ayse baten darum, die Sendung sehen zu dürfen.
    Sie sahen riesige Demonstrationen, auf denen die endgültige Abschaltung aller europäischen Kernkraftwerke und der Rücktritt der deutschen Regierung gefordert wurden. Bei einer der Demonstrationen hatte es sechs Tote gegeben. Der Zorn hatte sich vor allem gegen den Innenminister gerichtet.
    »Der klebt an seinem Sessel«, sagte Tünnes, der gerade vorüberkam. »Dabei hätten sie ihn auf seiner Informationsreise ein paarmal fast totgeschlagen.«
    Die DDR protestierte zum wiederholten Mal und verlangte Schadenersatz, in der Tschechoslowakei hatte sich eine aufgebrachte Menge vor der deutschen Botschaft versammelt, die Österreicher demonstrierten schon seit Tagen an der bayerischen Grenze, die man sie nicht passieren ließ.
    Dann wurde von der internationalen Spendenaktion berichtet, der angeblich größten seit dem Zweiten Weltkrieg. Ayse gähnte. Janna-Berta dachte an die Spendenbüchse, mit der sie einmal während eines Schulfestes für Hungernde in Afrika geklappert hatte. Auch sie fühlte sich erschöpft. So viel Neues, Unglaubliches hatte sie an diesem Tag erfahren!
    Doch bei den abschließenden Suchmeldungen wurden die beiden Mädchen wieder hellwach: Eltern suchten ihre Kinder, Kinder ihre Eltern, alte Leute wurden vermißt, Fotos von nicht identifizierten Toten erschienen auf der Mattscheibe, es war von einer Suchkartei und einer Totenliste die Rede. Ein Sprecher verlas Namen und Adressen.
    »Die Karteien«, erklärte Tünnes, »hat das Rote Kreuz zusammengestellt. Wenn ihr mir die Namen eurer Leute aufschreibt, erkundige ich mich nach ihnen. Okay?«
    Sie fanden ihn toll.
    »Fast wie Rüdiger«, meinte Ayse.
    Janna-Berta dachte an die Jungen ihrer Klasse. Ganz nette Typen, aber keiner darunter, für den sie sich hätte begeistern können. Nicht einmal für Elmar, der alles konnte und alles wußte. Ihren Freund hatte sie sich immer wie Reinhard vorgestellt, Almuts Mann. Nur jünger.
    Sie flüsterte noch lange mit Ayse, auch nachdem das Hauptlicht längst gelöscht war. Sie konnten beide nicht einschlafen. Janna-Berta dachte an die Bilder der Toten. Wenn Vati und Mutti, wenn Kai und Jo wirklich tot waren – sahen sie dann so aus?
    Achtzehntausend Tote, Hunderttausende von Strahlenkranken, verseuchte Gegenden, ganze Landkreise, die auf Jahre hinaus unbewohnbar sein würden, verbotenes Land, abgeriegelt und eingezäunt mit Stacheldraht – Janna-Berta versuchte vergeblich, sich das alles vorzustellen.
    Während der nächsten Tage ließ sie keine Nachrichtensendung aus. Sie wollte alles wissen, ganz genau.
    »Weißt du, was sich die Frauen auf dem Klo erzählen?« flüsterte Ayse. »Ein paar Kilometer um das Kernkraftwerk sollen sie auf alle Leute geschossen haben, die flüchten wollten. Weil die doch ganz verseucht waren. Glaubst du das?«
    »Nein«, antwortete Janna-Berta. »Ich glaub nicht, daß so was bei uns passieren kann.«
    Plötzlich starrte Ayse zur Tür. Ihre Augen wurden groß. Sie schrie etwas auf türkisch. Janna-Berta sah, wie sie auf einen hageren Mann mit dunklem Haar und Schnauzbart zustürzte. Er fing sie auf, hob sie hoch und umarmte sie stürmisch.
    Ayses Vater war gekommen. Aus Wangerooge. Dorthin hatte es Ayses Familie verschlagen. Eng umschlungen saßen sie nebeneinander auf Ayses Bett und erzählten einander mit vielen Gesten. Janna-Berta verstand kein Wort. Und immer wieder weinten sie, Vater und Tochter, gemeinsam. Sie waren so laut!
    Janna-Berta fühlte sich einsam. Sie drehte sich zur Wand. Jetzt würde bald ein fremdes Kind neben ihr liegen.
    Doch am Abend mußte der Vater ohne die Tochter abreisen. Der Arzt hatte Ayse

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