Die Wolke
denke, daß –«
Er brach ab, verstummte und schritt mit müdem Gesicht weiter. Ayse wälzte und krümmte sich im Bett und stöhnte. Schließlich lag sie auf den Knien, mit dem Rücken zum Kopfende, und beugte sich so weit vornüber, daß sie mit dem Kopf die Matratze berührte.
»Was machst du denn?« rief Janna-Berta erschrocken.
»Ich bete«, keuchte Ayse und wischte sich den Schweiß ab.
»Glaubst du, das hilft?« fragte Janna-Berta.
Aber Ayse antwortete nicht. Mit geschlossenen Augen richtete sie sich auf und verbeugte sich wieder, auf – ab, auf – ab, bis Janna-Berta darüber die Augen zufielen.
Schwerkranke Kinder wurden hinausgetragen, frisch eingelieferte in die noch nicht ausgekühlten Betten gelegt. Janna-Berta hatte kaum die Kraft, denen, die fort mußten, nachzuwinken. Von den altvertrauten Bettnachbarn blieb ihr nur Ayse. Die wollte mit ihr fast nur noch über ihre Haare sprechen. Janna-Berta mußte Ayses Hinterkopf betrachten und schildern, wie er aussah. Aber auch sie selber beschäftigte sich viel mit ihren Haaren. Sie bat Ayse, sie ganz behutsam zu kämmen. Und dann kam es doch zu Zornausbrüchen und Tränen, weil Ayse auf einmal ein Riesenbüschel im Kamm hatte.
Janna-Bertas Sehnsucht nach Mutti und Vati wurde immer größer. Wenn sie an ihrem Bett säßen, wenigstens einer von ihnen, und ihr übers Haar strichen – nein, nicht übers Haar! – oder sie nur lieb ansähen, dann – ja, das wußte sie genau, dann würde sie auf der Stelle gesund werden, aufstehen können und fortgehen.
»Lieber Gott«, betete sie, »laß sie leben und kommen!« Und sie fügte hinzu: »Sonst gibt es dich nicht.«
Sie stellte ihn auf die Probe, stellte ihm Bedingungen. Sie wollte bis fünfzig zählen. So lange gab sie Gott Zeit, ihre Eltern herzuschaffen. Bei dreiundvierzig öffnete sich die Tür. Janna-Berta hob den Kopf. Aber es war nur Tünnes mit den Fieberthermometern.
»Tünnes«, fragte sie matt, »hast du endlich gefragt?«
»Ja«, sagte er und versuchte, ihrem Blick auszuweichen. »In den Karteien sind sie nicht. Immer noch nicht.«
»Auch nicht meine Großmutter?« fragte sie ratlos.
Er schüttelte den Kopf. »Weiß der Himmel, wo die sind«, sagte er. »Jedenfalls ist vorläufig noch alles offen. Und du werd erst mal gesund, dann sehen wir weiter.«
»Ich glaub, du willst mich nur schonen«, sagte sie.
Tünnes fiel ein Thermometer vom Tablett, und er mußte die Scherben zusammenkehren. Später, nachdem alle Fieber gemessen hatten, kam er an Janna-Bertas Bett vorbei und strich ihr über den Kopf.
»Nicht über die Haare«, sagte sie erschrocken. »Man braucht nur in die Nähe zu kommen, dann gehn sie schon aus.«
Sie nahm seine Hand, legte sie sich quer über die Augen und hielt sie so lange fest, bis er fortgerufen wurde.
An diesem Abend interessierte sich Janna-Berta wieder für die Nachrichten. Aber sie verstand die Zusammenhänge nicht mehr. Von einem Regierungswechsel war die Rede, es wurde verabschiedet, begrüßt und geschworen. Im Regierungsviertel von Bonn waren zahlreiche Scheiben zu Bruch gegangen. Ungenehmigte Demonstrationen. Protestierende. Menschen aus dem Katastrophengebiet. Der Sprecher nannte die Zahl fünfzigtausend. Man sah Kolonnen von Straßenkehrern, die Scherben zusammenfegten. Dann in Großaufnahme zwei tote Rehe im Gras: In Nord- und Ostbayern verende das Wild zu Tausenden, sagte der Sprecher.
Tote Rehe im Gras. Janna-Berta mußte an Uli denken. Sie schloß die Augen und drehte den Kopf weg.
Ayse bat Tünnes, ihr ein Kopftuch zu besorgen. Da wollte Janna-Berta eine Mütze haben. Gleich am nächsten Vormittag kam er mit einer ganzen Schachtel voll Mützen an. Er hatte sie von Haus zu Haus gesammelt, Kindermützen, manche schon gestopft, verfilzt, ausgebleicht. Aber die Kinder rissen sich darum. Ayse überreichte er mit einer kleinen Verbeugung ein Kopftuch. Glücklich band sie es sich um und zog sich eine letzte Locke tief in die Stirn.
»Merkt man noch was?« fragte sie.
Janna-Berta schüttelte den Kopf. Sie probierte die Mütze. Eine Mütze im Bett? Sie schob sie unter das Kopfkissen.
Als sie zur Toilette ging, langsam, die Wände entlang, traf sie Tünnes im Gang. Er grinste sie an und sagte: »Hat dir schon mal jemand gesagt, daß du ein Lilofee-Gesicht hast?«
Sie lehnte sich an die Wand und unterdrückte den Brechreiz.
»Ich hab kein Lilofee-Gesicht«, sagte sie, »was immer das sein mag. Ich hab überhaupt kein Gesicht wie irgend jemand.
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