Die Wolke
Herrschaften!«
Er versprach Janna-Berta, bei der nächsten Gelegenheit, die sich ihm bieten würde, beim Roten Kreuz anzurufen.
Sie lag nicht mehr den ganzen Tag. Sie half den Schwestern, zusammen mit Ayse. Sie spielte mit den Kindern und fütterte sie, wenn sie zu schwach waren, selber den Löffel zum Mund zu heben. Sie erzählte Geschichten und sang Lieder, die sie von Oma Berta gelernt hatte. Und sie tröstete.
»Janna-Berta, Janna-Berta!« riefen die Kinder, und sie kam, obwohl sie spürte, wie schwach sie noch war. Ab und zu ließ sie sich erschöpft auf ihr Bett fallen. Aber sobald ein Kind nach ihr rief, stand sie wieder auf. Alle sollten sehen, daß sie gar nicht mehr in ein Krankenhaus gehörte!
Auch Ayse wollte flüchten. Der gemeinsame Fluchtplan stand fest und war längst bis in alle Einzelheiten besprochen. Nur auf Tünnes war kein Verlaß. Er fuhr zur Wäscherei, er fuhr zur Großbäckerei, und jedesmal kam er unverrichteter Dinge zurück. Er hätte vergessen anzurufen, behauptete er beim ersten Mal, und während der zweiten Fahrt hatte er angeblich keine Zeit gehabt. Dann war es Janna-Berta und Ayse so, als ginge er ihnen aus dem Weg, wann immer er konnte.
In diesen Tagen starben einige Kinder aus dem Saal – eines an einer plötzlichen Lungenentzündung, gegen die sich der Körper nicht wehrte, ein anderes an einer simplen Angina, ein drittes, Florian, welkte innerhalb weniger Tage einfach weg. Er starb so unerwartet, daß seine Mutter immer wieder stammelte: »Das muß doch ein Irrtum sein –« So lange, bis der Vater sie anschrie: »Jetzt sei doch, verdammt noch mal, endlich still!«
Als sie das Kind hinaustrugen, weinte der Vater. Janna-Berta sah ihnen durch das Fenster nach. Ihr kam ein Vers in den Sinn, den Mutti sich damals, nach Tschernobyl, ausgedacht und bei den Demonstrationen auf einem Transparent vor sich hergetragen hatte:
Ene dene dimpedil,
Wer hat Angst vor Tschernobyl?
Millirem und Becquerel,
Kleine Kinder sterben schnell.
Aus der Wolke
Strahlt's heraus –
Und du
Bist
Aus!
Auf der anderen Seite des Vorplatzes standen ein paar kleine Jungen und starrten herüber. Die Herleshäuser Kinder kamen nie bis an die Fenster oder die Tür ihrer Schule. Scheu spähten sie von einem sicheren Platz aus, bereit, jeden Augenblick fortzulaufen. Man hatte ihnen wohl erzählt, daß die Schule verseucht war.
Am selben Abend bekam Ayse hohes Fieber, und am nächsten Morgen verlor auch Janna-Berta jeden Appetit. Sie fühlte sich schlapp, fieberte und litt an Durchfall. Ihre Mandeln schwollen an und schmerzten. Der Arzt beugte sich über sie und fuhr ihr über den Kopf. Zwischen seinen Fingern blieben Strähnen ihres blonden Haars hängen. Er nickte bekümmert. Also doch.
Aus der Flucht würde nichts mehr werden. Sehnsüchtig sah Janna-Berta Lara nach, die entlassen wurde. Verwandte holten Mutter und Tochter ab. Sie hatten Glück.
Den meisten anderen Kindern im Saal ging es ähnlich wie Ayse und Janna-Berta: Nach Tagen scheinbarer Gesundheit ging es ihnen elender als zuvor. Gequält von hohem Fieber und Durchfall, wimmerten sie vor sich hin oder dösten teilnahmslos. Ayse begann eines Morgens, hysterisch zu schreien. Sie hatte sich gekämmt, und dicke Strähnen ihres üppigen schwarzen Haars waren im Kamm hängengeblieben. Auf ihrer Kopfhaut erschienen kahle Stellen. Als Janna-Berta tröstend den Arm um sie legte, schlug sie nach ihr. Erschrocken starrten die anderen Kinder zu ihr hinüber und fuhren sich verstohlen über die eigenen Köpfe.
»Es tut ja nicht weh, Kleines«, versuchte die Schwester zu trösten. »Und später wächst es wieder.«
Janna-Berta fühlte selber die Angst vor einem Kahlkopf in sich heraufkriechen. Ein Mädchen mit Glatze – das wirkte nicht mitleiderregend, sondern komisch. Sie stellte sich vor, wie es sein mußte, ausgelacht zu werden. Und sie beschloß, sich nicht mehr zu kämmen.
Gleichgültig ließ sie die Untersuchungen der Ärzte über sich ergehen, nahm sie ihr hilfloses Achselzucken wahr.
»Alle diese Fälle gehörten in eine Spezialklinik«, hörte sie einen der Ärzte zu einer Schwester sagen.
»Aber es sind Zehntausende«, sagte die Schwester.
»Zehntaus ende?« entgegnete der Arzt. »Hunderttausende! Die, die spätestens in ein paar Jahren dran sind, nicht mitgezählt.«
Er dämpfte die Stimme und zeigte auf Ayse und Janna-Berta. Durch die halbgeschlossenen Augenlider sah Janna-Berta seine Hand. »Schöne Zukunft. Wenn ich daran
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