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Die Wolke

Die Wolke

Titel: Die Wolke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Pausewang
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ausgestrecktem Zeigefinger nach oben.
    Janna-Berta war verstört. War das noch Elmar, der Gelassene, Heiter-Überlegene? War sie selbst auch so anders geworden, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten?
     
    Sie lag jetzt oft stundenlang auf ihrem Bett. Fast immer fühlte sie sich müde. Zu jeder Tätigkeit mußte sie sich überwinden. Meistens kam sie ohne Hausaufgaben zur Schule. Nach zwei, höchstens drei Schulstunden dröhnte ihr der Kopf. Wenn sie heimkam, würgte sie nur widerwillig ein paar Bissen herunter, dann warf sie sich für Stunden aufs Bett und schloß ihre Zimmertür von innen zu, um ungestört zu bleiben.
    »Du könntest wirklich ein bißchen im Haushalt mithelfen«, sagte Helga mit ihrer Falte zwischen den Brauen, die immer dann erschien, wenn ihre Stimme vorwurfsvoll klang. »Wir sind schließlich eine Art Familie, du und ich.«
    Janna-Berta erschrak. Nein, sie waren keine Familie, würden es auch nie sein. Nach wie vor begegnete sie ihrer Tante so wie früher, wenn sie bei ihr zu Besuch gewesen war. Unlustig schichtete sie das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine, während Helga über ihren Vorbereitungen saß oder Briefe schrieb. Die Friemels hatten jetzt das Einkaufen übernommen.
    Helga war schon immer eine Art Familienzentrale gewesen, bei der man hatte erfahren können, wie es Onkel X oder Großtante Y ging. Jetzt versuchte sie, Gewißheit über das Schicksal aller jener Familienangehörigen zu erlangen, die in der Katastrophenzone daheim gewesen waren. Immer wieder kamen Briefe zurück mit dem Vermerk: EMPFÄNGER NACH UNBEKANNT VERZOGEN. Aber Helga ließ nicht locker. Sie fand heraus, daß Janna-Bertas Vater in Schweinfurt umgekommen war, wahrscheinlich gleich am Morgen des Katastrophentags. Die Mutter und Kai waren in einem Rot-Kreuz-Zelt im oberen Kinzigtal gestorben – erst Kai, vier Tage später die Mutter. Von Jo wußte sie nur, daß sie tot war. Jo gehörte nicht zur Familie. Auch an einem Kontakt mit Almut war sie nicht interessiert. Janna-Berta mußte sich die Adresse aus der Suchkartei selber besorgen. Aber da war nur ein z.Z. Grundschule, Wiesbaden-Bierstadt vermerkt, und ein Brief, an diese Adresse abgesandt, kam zurück: EMPFÄNGER NACH UNBEKANNT VERZOGEN.
    »In der Suchkartei stehst du jetzt unter meiner Adresse«, sagte Helga zu Janna-Berta. »Sobald Almut die Möglichkeit hat, wird sie sich hier melden.«
    Janna-Berta hörte Helga bis tief in die Nächte tippen. Sie schrieb an alle Verwandten. Sie bat sie, Oma Berta und Opa Hans-Georg nichts vom Tod ihres Sohnes, der Schwiegertochter und der beiden Enkel zu schreiben. Sie selber habe den Eltern geschrieben und habe sie beruhigt.
    »Ich habe ihnen erklärt, daß sich dein Vater mit der Familie in einer Klinik befindet«, sagte sie zu Janna-Berta, »und daß ihre Gesundheit nur vorübergehend beeinträchtigt –«
    »Ja, ja, die Lügengeschichte, die du mir schon im Hospital erzählt hast«, unterbrach sie Janna-Berta. »Daß sie vorläufig noch nicht schreiben dürfen, weil die Klinik von der Außenwelt streng abgeschirmt ist – nicht wahr?«
    »Ja, ich lüge«, sagte Helga ungehalten. »Aber ich tue das nur zu ihrem Besten.«
    »Ob sie die Geschichte glauben?« fragte Janna-Berta. »Ich würde sie dir jedenfalls nicht abnehmen.«
    »Sie glauben sie«, sagte Helga. »Weil sie sie glauben wollen. Daß deine Eltern und Kai in Schweinfurt gewesen sind, können sie nicht wissen. Ich habe ihnen empfohlen, unbedingt so lange auf Mallorca zu bleiben, bis sich hier alles normalisiert hat. Dann hole ich sie hierher. Friemels werden ja nicht ewig hierbleiben. Natürlich habe ich ihnen Geld überwiesen. Wirklich: Auf Mallorca sind sie zur Zeit am besten aufgehoben.«
    Janna-Berta spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Sie mußte sich wieder aufs Bett legen, um nachdenken zu können.
    Sie sah Oma Berta vor sich, wie sie strickte. Sicher war's ein Trachtenjanker für Kai oder eine buntgeringelte Pudelmütze für Uli. Sie saß unter einem leuchtendbunten Sonnenschirm, vor sich die unerläßliche Kaffeetasse, und ließ sich von Opa Hans-Georg vorlesen, denn ihre Augen waren nicht mehr sehr gut. Sie bestand nicht auf bestimmten Schriftstellern. Aber sie schätzte es sehr, wenn die Geschichten gut ausgingen.
    »Für Tragödien sind wir zu alt«, pflegte sie zu sagen, und Janna-Berta sah Opa Hans-Georg dazu nicken. Schon oft hatte sie sich den Opa als Hauptmann vorzustellen versucht, Hauptmann der schweren Artillerie im letzten Krieg.

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