Die Wolke
Finger gleiten.
»Ach, die Haare«, sagte Almut. Dann schwiegen sie beide.
»Was ist – was ist mit dem Kind?« fragte Janna-Berta nach einer Weile.
Almut hob die Hand und ließ sie wieder fallen.
»Hast du's –?« flüsterte Janna-Berta.
Almut nickte. Sie zog Janna-Berta an sich und begann zu weinen. »Das ist auch ein Grund, weshalb ich nicht früher gekommen bin«, sagte sie. »In den Kliniken ist überall ein furchtbarer Andrang. Man muß sich Wochen vorher anmelden. Es ist widerlich!«
»War's denn gar nicht anders möglich?«
»Nein«, sagte Almut. »Man hat es uns dringend geraten. Allen Schwangeren aus dem Schweinfurter Umkreis, die im ersten Drittel der Schwangerschaft waren. Wir haben lange überlegt. Aber ich habe nach der Flucht tagelang gekotzt und hatte einen Durchfall, der mich fast umgebracht hat. Und 'ne Menge Blut im Stuhl. Reinhard genauso. Wir sind zu spät geflüchtet. Wir haben uns erst noch um die Schüler kümmern müssen.«
Auch Janna-Berta weinte jetzt.
»Das Schlimmste ist, daß uns niemand sagen kann, ob wir überhaupt jemals Kinder haben können. Normale Kinder –« Almut lachte kurz auf. »Keine mit einem Auge auf der Stirn oder mit zwei Köpfen.«
Sie ließ sich seitlich aufs Bett fallen, schlug die Hände vors Gesicht und weinte. Janna-Berta strich Almut über den Kopf. Wie weich ihr Haar war, wie schön es sich anfühlte!
»Genug geheult«, sagte Almut, setzte sich auf und schneuzte sich. »Reinhard läßt dich ganz herzlich grüßen. Ab nächster Woche unterrichtet er wieder. In Wiesbaden-Frauenstein. Gestern hat er den Bescheid bekommen. Er hatte gar nicht zu hoffen gewagt, daß es so schnell gehen würde. Bei mir wird's wohl noch lange dauern.«
Sie erzählte, daß sie mit einem Bekannten gekommen war. Sie hatte den Sprit mitbezahlt. Nur bis zum Sonntagmorgen hatte sie Zeit, dann fuhr der Bekannte wieder zurück.
»Habt ihr denn euren Wagen nicht mehr?« fragte Janna-Berta.
Nein, sie waren ihn auf der Flucht losgeworden. Im Stau. Drei Männer, deren Wagen stehen geblieben war, hatten die Fahrertür aufgerissen und Reinhard herausgezerrt. Was war Almut anderes übriggeblieben, als auch hinauszuklettern? Bevor die Männer weitergefahren waren, hatten sie Reinhard die Schlüssel ihres eigenen Wagens aus dem Fenster gereicht.
»Sie haben gegrinst dabei«, sagte Almut, »und gesagt: Vielleicht springt er ja bei euch an. ›Toi – toi – toi!‹ Natürlich ist er nicht angesprungen. Wir mußten zu Fuß weiter, bis uns irgendwann jemand mitgenommen hat.«
Janna-Berta dachte nach. Dann fragte sie: »Warum hast du Uli gesagt, wir sollen in den Keller gehn?«
»Ihr wart ja viel weiter weg vom Reaktor als wir«, sagte Almut. »Ich konnte mir nicht vorstellen, daß auch bei euch evakuiert wird. Und ihr beiden allein auf den vollgestopften Straßen – das hielt ich für zu gefährlich. Ich hab auch immer noch gehofft, daß eure Eltern rechtzeitig wegkommen. Dann hätten sie euch doch bestimmt geholt. Wenn ich gewußt hätte –«
Sie stockte.
»Kurz nach dir hat Mutti angerufen«, erzählte Janna-Berta. »Sie wollte, daß wir flüchten. Vielleicht wäre Uli noch am Leben, wenn wir in den Keller gegangen wären.«
»Vielleicht auch nicht«, murmelte Almut. »Es ist sinnlos, darüber nachzudenken.«
»Das letzte, was sie sagte, war ›um Gottes willen‹«, sagte Janna-Berta.
Dann lief sie in die Küche, briet Almut ein paar Spiegeleier und kochte Kaffee. In ihrem Eifer bekleckerte sie die Herdplatte. Sie schob ihre Schulbücher vom Schreibtisch und deckte auf. Almut aß heißhungrig. Sie hatte während der ganzen Fahrt von Wiesbaden bis Hamburg nichts gegessen. Janna-Berta kauerte mit angezogenen Knien neben ihr auf dem Bett.
»Wenn dich Oma Berta so zu sehen bekäme«, sagte Almut mit vollem Mund, »würde sie dir sofort eine Mütze stricken. Erstens, damit man's nicht sieht, und zweitens, damit du's warm hast.«
»Wenn sie mich so sähe«, sagte Janna-Berta, »das wär für sie, als wenn ich nackt vor ihr rumlaufen würde.«
Almut mußte lachen. Janna-Berta lachte mit.
»Hat aber auch Vorteile«, sagte Almut. »Du bist schon von weitem als Hibakushi erkennbar. Ich muß immer erst sagen, daß ich dazugehöre.«
So hatte es Janna-Berta bisher noch nicht gesehen. Es tat gut, daß Almut hier war. Janna-Berta war in diesen letzten Tagen fast noch schweigsamer als Helga geworden. Nun begann sie zu reden, sie sprudelte wie ein Wasserfall. In allen Einzelheiten
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