Die Wolke
schilderte sie die Flucht und was auf dem Bad Hersfelder Bahnhof geschehen war. Sie erzählte von der Zeit im Nothospital von Herleshausen und sprach von Helga und Elmar. Almut hörte still zu und nickte nur hin und wieder. Sie waren so vertieft ins Erzählen und Zuhören, daß sie vergaßen, wo sie sich befanden und wie spät es war.
Dann klopfte es an ihre Zimmertür. Es war Helga. Sie begrüßte Almut in ihrer kühlen Art und fragte, ob sie Genaueres wisse über den Tod von Janna-Bertas Eltern und Kai. Aber Almut wußte nicht mehr als sie.
»Du kannst hier übernachten«, sagte Helga zu ihr, bevor sie das Zimmer wieder verließ.
Beim Abendessen gerieten Onkel Friemel und Almut aneinander. Onkel Friemel sorgte sich um sein Hab und Gut: »Wenn ich mir abends vor dem Einschlafen vorstelle, daß man uns vielleicht längst unseren Laden ausgeplündert hat –«
»Aber Paul«, sagte Tante Friemel und tätschelte seine Hand, »wir leben doch nicht in irgendeiner Bananenrepublik.«
»Bis wir wieder heimkönnen«, sagte Almut, »wächst Efeu durch die Wände. Wir haben alles abgeschrieben. Wir fangen neu an. Und wir freuen uns über jeden Tag, der uns bleibt.«
Dann erzählte sie von den ersten Solidarisierungsversuchen der Hibakusha im Rhein-Main-Gebiet.
»Solidarisierungsversuche?« fragte Onkel Friemel. »Wer solidarisiert sich mit wem gegen wen?«
»Wir Überlebenden aus dem Katastrophengebiet«, sagte Almut, »werden über kurz oder lang eine eigene Klasse in der Gesellschaft werden: die Klasse der kränklichen Habenichtse. Uneffektiv für die Wirtschaft und vor allem nichts zum Vorzeigen. Außerdem unbequem: Wir erzeugen Schuldgefühle und hindern am Vergessen und Verdrängen.«
»Du übertreibst«, meinte Helga.
»Ich übertreibe?« Almut lächelte. »Du solltest dir ein Buch über Hiroshima besorgen. Die Überlebenden dort und wir – und alle, die vielleicht noch dazukommen: Wir sind die Aussätzigen des zwanzigsten Jahrhunderts.«
»Sag doch nicht solche entsetzlichen Sachen«, rief Tante Friemel und hob abwehrend die Hände.
Almut überhörte ihren Protest.
»Dabei können wir noch von Glück sagen«, fuhr sie fort. »Hitler hätte uns vergast. Mit unseren verpfuschten Genen.«
»Na, na«, sagte Onkel Friemel und lehnte sich zurück. »Das gehört nun wirklich nicht hierher. Die Frage ist doch nur, was tun wir, wenn sich herausstellt, daß die schwer Strahlengeschädigten – verzeih, Almut, ich weiß, daß dich das treffen muß – daß also die schwer Geschädigten nur kranke Kinder haben können. Ich meine –«
»Du meinst, dann wird man uns wohl daran hindern müssen, Kinder zu kriegen«, unterbrach ihn Almut. »Hatten wir das nicht auch schon mal?«
»Aber Almut!« rief Tante Friemel aus. »Das hat er doch gar nicht gesagt.«
»Gesagt nicht«, entgegnete Almut.
Helga stand auf und begann den Tisch abzuräumen. Almut folgte ihr in die Küche. Sie säuberte die Herdplatte und schrubbte die Spiegeleierpfanne aus, während Helga einen Brief von Oma Berta vorlas, der an diesem Tag angekommen war. Es ging ihnen gut, sie waren ganz braun gebrannt und freuten sich, daß bei dem Reaktorunfall niemandem in der Familie etwas wirklich Tragisches zugestoßen war. Sie wünschten Sohn, Schwiegertochter und Enkeln eine baldige vollständige Genesung und wollten also dortbleiben, bis man sich wieder in Schlitz aufhalten dürfe.
»Gott sei Dank«, sagte Helga.
»Was ›wirklich Tragisches‹«, sagte Almut. »Sie bringt es nicht mal fertig, das Wort ›Tod‹ zu gebrauchen.«
Später, beim Flackerlicht einer Kerze wieder in Janna-Bertas Zimmer, erzählte Almut von ihrem jetzigen Leben in Wiesbaden-Bierstadt. In einer winzigen Kellerwohnung – Wohnküche, Schlafraum und Toilette – lebten sie und Reinhard und Reinhards Vater.
Janna-Berta erinnerte sich gern an Reinhards Vater. Er hatte eine kleine Gärtnerei in Bad Kissingen betrieben. Wenn sie an ihn dachte, sah sie ein freundliches Gesicht, das immer zwischen Blumen auftauchte, und Hände mit schmutzigen Fingernägeln und Schwielen.
Almut schilderte, wie schwierig es war, mit der Hauseigentümerin in Frieden auszukommen.
»Sobald wir wieder auf den Beinen stehen konnten«, sagte Almut, »sind wir aus dem Sammellager in die Wohnung eingewiesen worden. Die Madame hat sich gewehrt bis zuletzt, obwohl sie das ganze übrige Haus für sich allein hat. Natürlich sind wir ihr zu laut und zu fordernd und zu anders. Ein bißchen kann ich sie sogar
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