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Die Wolke

Die Wolke

Titel: Die Wolke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Pausewang
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verstehen. Sie ist alt. Sie kann sich nicht so schnell darauf einstellen, daß sie nicht mehr die einzige ist, die in ihrem Haus Geräusche macht – und machen darf.«
    Janna-Berta nickte.
    Dann sprach Almut von Millionen evakuierter und freiwillig geflüchteter Menschen, die von einem Tag zum anderen im ganzen Bundesgebiet hatten untergebracht werden müssen. Manchmal war es dabei fast zu Mord und Totschlag gekommen. Aber es hatte auch Nichtgeschädigte gegeben, die halfen, wo sie konnten. Almut erzählte von einem Pfarrer in Wiesbaden, der sich unermüdlich für die Flüchtlinge einsetzte, und von einer Sozialhelferin in Mainz, die einen ganzen Ring ehrenamtlicher Helfer aufgezogen hatte, um die Überlebenden zu betreuen.
    »Und nun organisieren wir uns auch politisch«, sagte Almut. »Viele Nichtgeschädigte schließen sich uns aus Solidarität an. Wir gewinnen an Boden, wir können etwas bewirken –«
    »Kannst du dich noch an die Demonstrationen nach Tschernobyl erinnern?« fragte Janna-Berta. »Da wart ihr auch voller Hoffnungen gewesen, Mutti und Vati und du. Ich hab das gespürt, obwohl ich noch klein war. Aber Oma und Opa haben recht behalten: Alles ist wieder eingeschlafen, und es war, als wäre Tschernobyl nie gewesen. Nicht mal die vielen Ukrainer, die langsam dahinstarben, haben daran was ändern können. Mutti und Vati haben oft darüber gesprochen.«
    »Tschernobyl war noch zu wenig«, entgegnete Almut. »Und wer weiß? Vielleicht ist sogar Grafenrheinfeld noch zu wenig. Man kann sich immer noch größere Unfälle vorstellen.«
    »Die Leute fangen schon wieder an zu vergessen«, sagte Janna-Berta. »Darum trag ich keine Perücke.«
    Almut strich ihr über den Kopf.
    Helga wollte die Couch im Wohnzimmer richten, aber Almut wollte bei Janna-Berta schlafen. Gemeinsam trugen sie eine Matratze in Janna-Bertas Zimmer und legten sie auf den Fußboden. Janna-Berta bot Almut das Bett an, aber Almut dankte und streckte sich auf der Matratze aus. Janna-Berta löschte die Kerze.
    »Schläfst du schon?« begann Almut nach einer Weile.
    »Nein.«
    »Es gibt etwas, von dem ich nicht weiß, ob ich's dir erzählen soll –« Almut stockte.
    »Erzähl«, sagte Janna-Berta.
    »Du mußt mir sagen, wenn ich aufhören soll«, sagte Almut. Dann begann sie: »Gleich am ersten Vormittag, nur ein oder zwei Stunden nach dem Unfall, haben sie einen Gürtel um die Sperrzone EINS gezogen. Polizei und Militär in Schutzanzügen. Sie haben die Leute in der Zone aufgefordert, in die Keller zu gehen. Und – es heißt, wer flüchten wollte, auf den wurde geschossen. Mit Maschinengewehren.«
    Janna-Berta dachte an das, was ihr Ayse einmal erzählt hatte.
    »Glaubst du, es ist wahr?« fragte sie.
    »Ja«, antwortete Almut. »Sie haben es zu verheimlichen versucht, aber so was läßt sich nicht verheimlichen.«
    »Und warum –«
    »Es heißt, die Bewohner der Sperrzone EINS seien so verseucht gewesen, daß sie den anderen gefährlich geworden wären. Und es heißt, sie hätten sowieso keine Überlebenschance gehabt. Sie wären langsam und qualvoll verreckt.«
    Nach einer langen Pause fragte Janna-Berta: »Aber die Polizisten und Soldaten, wie können sie –?«
    »Menschen sind zu allem fähig«, antwortete Almut.
    Wieder gab es eine lange Pause. Dann fragte Janna-Berta: »Glaubst du, Vati war auch bei denen, die nicht mehr herausdurften?«
    »Ich weiß es nicht«, antwortete Almut.
    Janna-Berta weinte.
    »Ich möchte nicht hierbleiben«, sagte sie. »Nimm mich mit nach Wiesbaden – bitte!«
    »Ich tät's gern, das weißt du«, sagte Almut. »Aber in unserem Keller ist einfach kein Platz. Versuch's hier auszuhalten, bis wir eine neue Bleibe gefunden haben. Und hör zu – wenn du's überhaupt nicht mehr aushältst, komm trotzdem.«
     
    Am nächsten Vormittag holte der Bekannte Almut mit dem Wagen ab. Janna-Berta kämpfte mit den Tränen, als Almut einstieg. Sie sah alles nur noch verschwommen.
    »Halt die Ohren steif!« hörte sie Almut rufen, bevor der Wagen um die Ecke verschwand.
    Sie blieb noch lange stehen. Als sie wieder in die Wohnung zurückkehrte, schnitt Helga in der Küche Zwiebeln. Überrascht hob sie den Kopf. Ihre Augen tränten.
    »Ich dachte schon«, sagte sie, »du seist mit ihr auf und davon.«

11
    Janna-Berta war jetzt fast jeden Tag mit Elmar zusammen. Eigentlich mochte sie ihn nicht besonders. Schon daheim war sie ihm aus dem Weg gegangen, obwohl sie ihn bewundert hatte. Jetzt war er noch schwerer zu ertragen.

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