Die Woll-Lust der Maria Dolors - Roman
lügen, das war von jeher die große Frage. Mal das eine, mal das andere, denkt Dolors, während sie Martí mustert. Wenn dir eine alte Frau einen Rat geben darf: Es kommt ganz auf die Situation an. Sei aufrichtig, solange deine offenen Worte niemanden verletzen. Wenn du damit aber jemandem wehtun würdest, kannst du ihn mit einer Lüge vielleicht schonen; ich selbst habe mich in meinem Leben etlicher Lügen bedient und bereue keine einzige davon. Und meine Intuition sagt mir, dass es das Beste wäre, wenn du die Geschichte mit Dani vorerst vor deinen Eltern verbirgst. Sie sind nicht darauf vorbereitet, das zu verstehen. Doch Dolors weiß schon, was er sagen wird, ich
muss
es ihnen erzählen, Oma, ich kann das nicht vor ihnen verheimlichen, ich … und so weiter und so fort. Die jungen Leute von heute haben die fixe Idee, nicht mit einer Lüge leben zu können, und merken dabei nicht, dass sie selbst unablässig belogen werden. Politiker und Werbeleute füllen ihre Köpfe mit großen Versprechungen, die sich an dem Tag als hohle Phrasen erweisen, an dem der Sturm das Meer des Wohlstands aufpeitschen wird, auf dem dann nur noch die Erwachsenen mit ihren Jachten voller Erfahrung segeln können, einer Erfahrung, von der die Jugend in naher Zukunft nicht einmal träumen kann. Arme Kinder, denkt Dolors – und tut das Einzige, was sie noch kann: Sie lächelt ihren Enkel herzlich an, damit er begreift, dass sie auf seiner Seite ist und ihn versteht.
Für Martí geht mit ihrem Lächeln die Sonne auf, denn er lächelt erleichtert zurück. Doch hat natürlich alles seinenPreis. Dolors stopft Strickzeug, Wolle und Zeitschrift in die Tüte und weist dann mit dem Kopf zum Arbeitszimmer. Martí begreift sofort und tritt an ihren Sessel, um ihr beim Aufstehen zu helfen: Seine Oma will mit dem Bildschirmkätzchen spielen.
Sosehr sie auch grübelt und sich zu erinnern versucht, es will ihr einfach nicht einfallen, wer den anderen zuerst berührte. Nachdem er das Glas Wein in die Küche getragen hatte, war Antoni wieder zu ihr in den schmalen, unheimlich kahlen Flur gekommen. Bei ihr zu Hause hingen unzählige kostbare Gemälde an den Wänden, und überall standen wertvolle Möbel, wie etwa die alte Pendeluhr, die beharrlich jede Viertelstunde schlug. In Antonis feuchtem, dunklem Häuschen gab es nichts von alledem, und dennoch hatte es sich für Dolors in einen Palast verwandelt – wegen der Bücher und wegen Antoni, dem Wichtigsten für sie auf Erden.
Was sie jedoch nicht vergessen hat, ist, dass sie sich stumm und mit klopfendem Herzen gegenübergestanden hatten und sie auf einmal seine Hand in der ihren spürte, auch wenn sie nicht mehr weiß, wer zuerst die des anderen suchte. Und sie erinnert sich, dass sie ein heftiges Verlangen danach verspürte, ihm nah, ganz nah zu sein, und dass auch er sich auf sie zubewegte. Ganz klar steht ihr jedoch vor allem eins vor Augen: dass in dem Moment, als ihre Lippen sich berührten, sie beide ein elektrischer Schlag durchzuckte, der sie für immer vereinte.
»Komm, Oma, noch ein paar Schritte, gut so … deinem Bein geht es ja schon wieder richtig gut …«
Martí meint das Bein, in dem sich der Thrombus gebildet hatte. Während er sie am Arm umsichtig zum Computerführt, verliert ihr Enkel indes kein Wort über seine Liebe, spricht nur von dem Kätzchen, das nach dem Betätigen einer Taste über den Bildschirm stolziert. Ach, wie niedlich es doch ist, Dolors setzt sich hastig hin, so hastig, wie es ihr das verflixte Bein erlaubt, und greift nach der Maus.
»Oma, Oma … von deiner virtuellen Katze bist du ja wie besessen.«
Martí lacht und lässt sie dann allein. Sie weiß, dass sie nun eine Weile bei ihrem Fèlix sitzen bleiben kann. Hoffentlich vertut sie sich heute nicht so mit den Tasten wie beim letzten Mal, als sie wer weiß worauf gedrückt hatte und plötzlich nur noch lauter Zahlen und Buchstaben auf dem Bildschirm zu sehen waren, die das Kätzchen verscheucht hatten und nicht mehr verschwanden. Martí muss in der Küche gewesen sein, jedenfalls nicht in Sichtweite, und Dolors hatte sich immer mehr aufgeregt.
Es ist nämlich inzwischen leider so, dass sie es immer weniger ertragen kann, wenn etwas nicht so klappt, wie sie das will. Je älter sie geworden ist, umso wütender macht sie das, im Vergleich zu früher muss sie unausstehlich geworden sein. Vielleicht hat Gott ihr ja den Schlaganfall geschickt, damit sie ein für alle Mal Ruhe gibt und ihre Launen
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