Die Woll-Lust der Maria Dolors - Roman
Alkohol, jedenfalls fand sie ihn schrecklich und gab Antoni das Glas zurück, es tut mir leid, aber … Keine Sorge, beruhigte er sie, den trinke ich irgendwann später, und ging dann damit in die Küche, um das Glas mit einem Teller abzudecken. Heutzutage hebt ja niemand mehr Reste auf, doch damals wurde einfach alles aufbewahrt; wenn es eigentlich kein Brot gibt, ist schon ein Krümel ein großer Schatz.
Allem Anschein nach kommen Martí und sein Freund jetzt aus dem Zimmer. Kommen sie zu ihr ins Wohnzimmer, oder geht Dani nach Hause? Dolors hört, wie die Wohnungstür auf- und zugeht. Martí ist jetzt also allein. Von ihrem Sessel aus kann sie ihn nicht sehen. Sie kann sich aber gut vorstellen, wie er dasteht, mit dem Rücken gegen die Wand oder die Tür gelehnt, auf Wolke sieben schwebend,der Wolke, die entsteht, nachdem man sich zum ersten Mal in die Arme desjenigen gestürzt hat, der tausend Glocken im Innersten zum Klingen bringt, einer Wolke aus einander widersprechenden, verwirrenden Gefühlen und Gewissensqualen. Auch sie hatte so dagestanden, nicht gegen Antonis, sondern ihre eigene Haustür gelehnt, minutenlang, bevor sie eingetreten war.
Was geht Martí jetzt wohl durch den Kopf? Was mag er fühlen? Was stellt er sich vor? Etliche Minuten hat er sich nicht von der Stelle gerührt, dann ist er langsam durch den Flur ins Wohnzimmer gekommen. Scheinbar ganz in ihre Strickarbeit vertieft, sieht Dolors ihn nicht an, weil sie einfach nicht weiß, wie. Als er plötzlich mitten im Zimmer stehen bleibt, schielt sie verstohlen zu ihm hin – und prompt rutscht eine Masche von der Nadel. Sie muss sie schnell wieder auffangen, bevor noch weitere fallen und sie mehrere Reihen aufziehen muss, doch dummerweise beginnt da auf einmal die allergische Stelle unter dem Auge zu jucken, sodass sie das Strickzeug sinken lassen muss, um sich zu kratzen.
Martí steht noch immer drei Schritte von ihr entfernt, und Dolors zerreißt es das Herz. Offensichtlich ist dem Jungen gerade erst bewusst geworden, dass sie die ganze Zeit in ihrem Sessel saß, bis zu diesem Moment hat er darüber wohl nicht nachgedacht. Unfähig, noch länger so zu tun, als hätte sie ihn nicht bemerkt, schaut Dolors ihn schließlich an. Martí ist kreidebleich und bebt vor Angst. So hat sie ihn noch nie gesehen, ihn, der immer so selbstsicher wirkt. Wahrscheinlich fragt er sich gerade, ob er, nach dem, was geschehen ist, die Liebe seiner Großmutter bis in alle Ewigkeit verloren hat.
Weißt du, wie viel Uhr es ist? Wo bist du gewesen? Kastanien sammeln, hatte Dolors trocken erklärt. Auch sie hatte innerlich vor Angst gebebt, sie jedoch mit einem fröhlichen Lachen überspielt. Kastanien sammeln warst du also? Der Vater machte ein ungläubiges Gesicht, weshalb ihm Dolors schnell den Korb mit ihren vier, fünf oder zehn Kastanien zeigte. Ich hab noch nicht so viele gefunden, aber ich gehe morgen wieder hin, vielleicht gibt’s dann schon mehr. Das war glattweg gelogen, es hatten schon viele Kastanien auf dem Boden gelegen, doch sie wusste, dass sich ihr Vater nicht bei den Arbeitern erkundigen würde, ob schon viele heruntergefallen waren. Um diese Uhrzeit hat ein Fräulein wie du nicht mehr allein draußen herumzuspazieren, was sollen denn die Leute denken! Dolors stellte den Korb ab und schlüpfte aus ihrem Mantel. Ach, Papa, so spät ist es doch noch gar nicht, jetzt übertreib mal nicht, ich kümmere mich auch gleich ums Abendessen. Augenblicklich erhellte sich seine Miene, und während sie in die Küche ging, um zu sehen, wie weit die Köchin mit dem Essen war, wurde ihr klar, was ihren Vater in Wirklichkeit erzürnte: Er verdächtigte sie nicht, gegen die herrschende Moral verstoßen zu haben, sondern ihm behagte nicht, dass sie nicht zu Hause war, wenn es dunkel wurde und er von der Arbeit kam.
Als sie sich eine Viertelstunde später zu Tisch setzten, hatte sie ihre Selbstsicherheit zurückgewonnen. Sanft streichelte sie ihrem Vater über die Hand und verkündete in aller Seelenruhe: Sei unbesorgt, liebster Papa, dein Abendessen wird immer pünktlich auf dem Tisch stehen. Aber weißt du, draußen auf den Feldern ist es um diese Uhrzeit einfach so herrlich! Es macht dir doch sicher nichts aus, wenn ich das ab und zu genießen will, nicht wahr, Papa? Die Abenddämmerunghat eine so lyrische Stimmung! Ganz unschuldig schaute sie ihn dabei an und dachte insgeheim, du liebe Zeit, Dolors, so schamlos hast du ja noch nie gelogen.
Lügen oder nicht
Weitere Kostenlose Bücher