Die Woll-Lust der Maria Dolors - Roman
wahrscheinlich schämt sich Leonor zu Tode und fragt sich, warum sie ihr das mit ihrem Chef erzählt hat, der glaubt, wie ein Grundherr im Mittelalter von seinen Leibeigenen Liebesdienste einfordern zu dürfen. So wie das auch Dolors’ Vater mit den Dienstmädchen praktiziert hatte.
Oft hatte ihr Vater sie angeekelt, manches Mal hatte er ihr allerdings auch leidgetan. Während ihrer Internatszeit hatte er sich mit einer entfernten Kusine über den Tod seiner Frau hinwegzutrösten versucht, kurz vor der Hochzeit löste sie die Verlobung jedoch, weil sie sich in einen anderen verliebt hatte. Und im Umfeld der Fabrik und des Klubs, zu dem nur Männern der Zutritt gestattet war, gab es leiderkeine Frauen seiner Gesellschaftsschicht, die der Gedanke hätte betören können, einen nicht mehr ganz taufrischen Witwer zu heiraten, der nicht einmal sonderlich reich war. Am Ende blieben ihm deshalb nur die Dienstmädchen, gefällige, furchtsame und gelegentlich eine, die Hals über Kopf die Flucht ergriff.
Zum Glück haben es die Männer heutzutage leichter, denkt Dolors nun. Wenn alle jungen Frauen so freizügig sind wie Sandra, dürften sie keine Probleme haben, ihre Triebe zu befriedigen. Und heutzutage macht eine Frau das auch völlig anders als früher, heutzutage verliebt sie sich gleich. Dass sie sich womöglich jemandem hingegeben hat, der es nicht verdiente, das bemerkt sie erst später. Aber mehr als auf seinen Körper sollte man eigentlich auf seine Seele aufpassen, denn im Grunde hat der Körper eigentlich gar keine so große Bedeutung, sinniert Dolors und lässt ihr Strickzeug sinken. Ob das mit der Taille wirklich richtig ist? Mehr Maschen wird sie jedenfalls nicht mehr abnehmen.
Sie holt das Zentimetermaß aus ihrer Tüte und misst die Breite des Vorderteils zum wiederholten Mal nach. Ach, Sandra, das kann man schon gar nicht mal mehr Figur nennen, dein Körper ist so dünn wie ein Spargel, und so hast du dich bereits einem Mann hingegeben. Stell dir vor, Liebes, ich war beim ersten Mal sechsundzwanzig, das heißt zehn Jahre älter als du!
Mit sechsundzwanzig Jahren hatte Dolors schon eine geraume Weile geglaubt, dass sie für alle Zeiten ledig bleiben und in dem großen Haus bei ihrem Vater leben würde, bis er nicht mehr die Manneskraft besäße, die Dienstmädchen in Angst und Schrecken zu versetzen. Wie viele Male hatten vor allem die jüngeren Mädchen in ihrem Zimmergeschlafen, um dem gnädigen Herrn nicht zu Willen sein zu müssen. Und alle hatten sie als ihre Retterin verehrt, vor allem Mireia, das kleine, zerbrechlich wirkende, kluge Bauernmädchen, das ihr irgendwann ihre Liebe für einen der Arbeiter gestanden hatte, den sie schließlich dank Dolors’ Fürsprache auch zum Mann bekam.
Bis ein Jahr vor ihrer Hochzeit mit siebenundzwanzig Jahren hatte Dolors keinen einzigen Verehrer gehabt, und auf einmal waren es gleich zwei. Eduard mit seinen Pralinen und Antoni mit seinen Büchern. Eduard bedeutete ihr zunächst nichts. Die Sache mit der Schokolade machte ihn jedoch sympathisch, denn jedem, der ihr Schokolade schenkte, war Dolors zugetan, erst recht, wenn es so gute war, denn nach dem Krieg war Schokolade fast nicht zu bekommen. Und so war Eduard nach und nach zu einem Freund geworden, ja sie scherzte sogar mit ihm und sagte, ich hätte ehrlich nie gedacht, dass du so amüsant sein kannst; als ich dich zum ersten Mal traf, sah es aus, als könntest du nicht lachen, so zugeknöpft warst du da. Und zu guter Letzt fing sie sogar an, die Sonntagnachmittage im Hause seiner Eltern zu mögen.
Außerdem gab es da noch etwas anderes. Etwas, dem sie sich nicht entziehen konnte: Die Geschichte mit Antoni und dem Dienstmädchen aus Sarrià lastete schwer auf ihrer Seele. Sicher, sie wusste, dass das Schnee von gestern war und Antoni sie liebte, doch sie war davon wie besessen. Es wollte ihr nicht aus dem Kopf, und ständig stellte sie sich vor, wie Antoni mit der anderen im Bett das Gleiche tat wie mit ihr, und dann bekam sie augenblicklich so schlechte Laune, dass sie am liebsten dem Erstbesten die Augen ausgekratzt hätte.
Deshalb waren die Sonntagnachmittage mit Eduard für sie so etwas wie eine kleine Rache für den unerhörten Schmerz, der sie nicht zur Ruhe kommen ließ. Es verschaffte ihr eine unheimliche Genugtuung, wenn sie nach dem Liebesakt beim Gespräch über Bücher, Philosophie oder Alltägliches wie nebenbei fallen lassen konnte, dass sie sich am Sonntag hervorragend amüsiert hatte, denn
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