Die Woll-Lust der Maria Dolors - Roman
dann erwachsenen Jaume und all den Männern wählen wird, die sie in den nächsten Jahren bestimmt noch kennenlernt. In Dolors’ Jugend heiratete man den Ersten, der einen mit Gedichten oder Schokolade beglückte, heutehingegen haben junge Frauen mit sechsundzwanzig wahrscheinlich schon derart viele Männer gehabt, dass sie zweifeln, mit welchem sie tatsächlich zusammenbleiben sollen, oder zu dem Schluss kommen, keinen davon zu heiraten und so ein bisschen allen zu gehören. Die Unschuld aber schon mit sechzehn Jahren zu verlieren, das ist etwas, das für Dolors bisher ins Reich der Fabel gehört hat, da sie im gleichen Alter zu bestimmten Themen ja nicht einmal Fragen stellen durfte. Und zu ihrer Zeit durfte man natürlich auch nur antworten, wenn man etwas gefragt worden war, und auch dann bloß mit einem höflichen Satz, der stets mit einem respektvollen »Senyor« oder »Senyora« enden musste. Das und noch vieles mehr hatten ihnen die Nonnen damals gründlich eingeschärft, auch, dass ihr ganzes Streben darauf gerichtet sein müsse, eine kultivierte Dame zu werden. Doch Vorsicht: Der Mann, den sie einmal heiraten würden, würde eine Frau mit Abitur zwar sehr zu schätzen wissen, doch zeigen dürften sie ihm nie, dass sie mehr wussten als er. Ihre Aufgabe sei es später, das Regiment über die Dienstmädchen zu führen, was sie sonst noch zu tun und zu lassen hatten, würde ihnen dann schon ihr künftiger Ehemann erklären. Weil sie einen wachen Geist hatte, hätte Dolors liebend gern ihre Mutter gefragt, ob das alles stimmte, was die Nonnen ihnen da erzählten, aber ihre Mutter war damals schon gestorben. Ihr blieb also nichts anderes übrig, als sich alles anzuhören und sich dann selbst eine Meinung zu bilden.
Als der Krieg ausbrach, fehlte ihr noch ein Jahr bis zum Abitur, und da es zunächst nicht so ernst zu werden schien, blieb sie im Internat. Die Reifeprüfung bestand sie mit einer guten Note und kehrte dann nach Hause zurück, imKopf nichts als ihre Philosophie und den festen Vorsatz, den Vater zu bitten, sie zur Universität gehen zu lassen, so wie ein paar wenige Glückliche unter ihren Freundinnen. Kommt nicht in Frage, erklärte ihr Vater damals, eine Frau braucht nicht mehr zu wissen, sodass Dolors schon fast zu glauben begann, dass die Nonnen recht hatten. Weil sie jedoch nicht lockerließ, wurde der Vater schließlich ärgerlich: Es ist Krieg, alles ist aus und vorbei, siehst du das nicht?
Sie sah es nicht, Dolors hatte nur Augen für ihre Philosophie und war ganz beseelt von ihren Denkern, die sich nach dem Warum der menschlichen Existenz fragten und ungewöhnliche Ideen vertraten, die seinerzeit aber nur bis zu einem gewissen Punkt zulässig waren. So wie die Sache mit dem Arm, den man ungestraft nur bis kurz vor dem Ellbogen entblößen durfte. Da man sich letztlich immer nach dem Verbotenen sehnt, hatten sie und ihre Mitschülerinnen eines Nachts im Internat das maßlose Verlangen verspürt, die Ellbogen der anderen zu sehen, und dabei entdeckt, dass sie alle einen mehr oder weniger gleich schmutzigen Ellbogen hatten. Ob das auch so mit ihrer geliebten Philosophie war? Jedenfalls war sie besessen von der Idee, zu erkunden, ob die Gedankengebäude der verbotenen Philosophen ebenfalls mit einer dicken Dreckkruste bedeckt waren oder ob sie sich weich und geschmeidig anfühlten.
Voller Ungeduld wartete sie deshalb auf das Ende des Krieges, mit nur wenig zu essen und noch weniger zu tun, während ihr Vater an der Front war und eine Kolonne irgendwo auf dem Land befehligte. Mehr schlecht als recht brachte sie sich mit Nähen durch, denn die Milizen hattenalles beschlagnahmt. So gingen zwei Jahre ins Land, während denen ihr zwar nicht die Kugeln um die Ohren pfiffen und sie auch keinen Bombenangriff erlebte, sie aber doch allerhand mit ansehen musste, sodass sie seither Gedächtnislücken hat, weil sie bestimmte Dinge verdrängen muss, die sich direkt vor ihren Augen abgespielt hatten.
Und danach … danach fegte ein unbarmherziger Wind übers Land, verschloss den Überlebenden die Ohren, zwang sie, mit gesenktem Blick den Boden nach Brotkrumen abzusuchen, was ihnen die Sicht nahm auf alles, was sich vor ihrer Nase abspielte. Ihr Vater kehrte zurück und übernahm die Fabrik von Eduards Eltern am Stadtrand, denn die einstige Fabrik lag in Schutt und Asche.
Nachdem Angst und Hunger vorbei waren und es schien, dass das Leben wieder seinen geordneten Gang ging, versuchte Dolors es dann noch
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