Die Woll-Lust der Maria Dolors - Roman
– was Leonor und Teresa natürlich vehement abstritten.
Es kommt der Moment, in dem man nicht mehr tun und lassen kann, wozu man Lust hast, weil einem dazu das Recht abgesprochen wird, da man alt ist und sich alle um einen sorgen. Sicher gibt es in ihrem Alter eine Menge Leute, die es sich wünschen, dass alles für sie erledigt wird, doch Dolors hat noch nie gern Hilfe angenommen. Deshalb hatte sie auch die schiere Verzweiflung gepackt, als ihr klar wurde, dass sie nach dem Schlaganfall definitiv nicht mehr alleine leben konnte. Die Einzige, die ahnte, was in ihr vorging, war Teresa gewesen, als sie sah, wie ihrer Mutter im Krankenhaus unaufhörlich bittere Tränen über die Wangen liefen und ihr Kopfkissen durchnässten. Das bekommen wir schon hin, Mama, mit Gesten kannst du dich doch sehr gut verständlich machen, hatte Leonor sie zu trösten versucht, doch deshalb hatte sie gar nicht geweint, und da sagte Teresa: Du hast Panik davor, wieder mit jemandem zusammenlebenzu müssen, stimmt’s, Mama? Mach dir deshalb keine Sorgen, es wird sich niemand allzu sehr in dein Leben einmischen, nicht wahr, Leonor?, die darauf nur erwiderte: Natürlich nicht.
Natürlich nicht: Und eigentlich stimmt das auch, sie hat es bei Leonor besser als bei sich zu Hause mit Fuensanta als Aufpasserin, auch wenn sie das nicht gern zugibt. Denn sie hat von ihrem Sessel aus eine neue Welt entdeckt, eine Welt voller Überraschungen, wie sie das in ihrer eigenen Familie nie vermutet hätte. Hier macht jeder, was er will. Und jeder hat vor den anderen etwas zu verbergen.
Wenn man sein Geheimnis aber lüftet, kann man nicht sicher sein, dass man Verständnis findet. Sandra ist jedoch wie Leonor, sie muss jedem erzählen, was sie bewegt, auch wenn sie das mit ihrem Jaume ganz schön lange geheim gehalten hat. Von nun an wird Sandra allerdings kein Vertrauen mehr zu ihrer Mutter haben und sich bedeckt halten, denn es steht ihr ins Gesicht geschrieben, dass Leonors Reaktion sie völlig verstört hat. Mit ihrem Anfall mütterlicher Fürsorge hat Leonor das genaue Gegenteil von dem erreicht, was sie eigentlich bezweckte.
Stattdessen ist es jedoch gut möglich, dass künftig Martí der Vertraute seiner Schwester ist. Voll Freude merkt Dolors, dass die Geschwister einander gerade das erste Mal seit langem wirklich wahrgenommen haben. Nun, da die Kinderstreitereien hinter ihnen liegen und sie die Phase der Geistesverwirrung überwunden haben, in der aus Jungen Männer und aus Mädchen Frauen werden, nun spürt Dolors, dass Sandra und Martí sich gefunden haben. Und zwar für immer.
Das Leben mit Eduard war nicht leicht. Ihn zu heiratenund es augenblicklich zu bereuen war eins. Zum Glück wohnten sie weit entfernt von den Schwiegereltern; es hätte Dolors gerade noch gefehlt, ständig von der Schwiegermutter überwacht zu werden, sie hatte sich schon genug eingemischt in ihr Leben. Da Eduard jedoch eigenständig eine weitere Fabrik aus dem Familienbesitz leiten sollte, zogen sie nach der Hochzeit mit Mireia in eine Wohnung im Stadtzentrum, und Eduard fuhr jeden Tag mit einem brandneuen Auto die halbe Stunde zur Fabrik. Mireia nahm Dolors mit ins Eixample-Viertel, weil sie die Einzige war, die ihr wirklich nahestand, auch wenn sie ein Häubchen und eine Schürze trug. Sie ist die beste Freundin, die ich je gehabt habe, sagt sich Dolors nun voll Dankbarkeit, sie, Teresa und Martí – das sind die Menschen, die mich wirklich verstehen.
»Ach komm, Kleine. Davon geht die Welt nicht unter, das haben wir alle mal durchgemacht.«
Leonor ist gerade durch das Wohnzimmer gekommen, hat Sandra, die sich noch immer an Martí kuschelt, einen Kuss gegeben und ihr ganz leise diese Worte zugeraunt. Es ist ihre Art, ihrer Tochter zu zeigen, dass ihr das Gesagte leidtut. Und Sandra lächelt ihr zu. Wie hübsch die Kleine in dem Pullover aussehen wird, denkt Dolors, hoffentlich bekomme ich ihn noch in diesem Winter fertig, es sind genau ihre Farben, und sie harmonieren einfach wunderbar miteinander.
Früher, ja früher da hat sie unheimlich viel gestrickt. Bevor sie die Scheuklappen abnahm, suchte sie nach allen möglichen Zerstreuungen, die sie von dem ablenken sollten, was um sie herum geschah, sie wollte an nichts anderes denken als an ihre beiden Kinder und ihre Verpflichtungenals gnädige Frau, denn sie musste den Abstand zwischen sich und Antoni – der in ihrer Vorstellung noch immer in seiner feuchten Baracke hauste, vielleicht aber auch mit Frau und
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