Die Woll-Lust der Maria Dolors - Roman
zwölf Jahre alt war, hätte er zwei und zwei zusammengezählt, was, wie jedermann weiß, vier ergibt. Und wieso gibt zwei und zwei vier und nicht, zum Beispiel, fünfundzwanzig? Mich wundert nicht, dass du Philosophie studiert hast, Mama, sagte Teresa gelegentlich lachend zu ihr, außer dir stellt sonst niemand solche seltsamen Fragen, wer kommt schon auf die Idee, zu hinterfragen, warum zwei und zwei vier sind. Bis zu ihrem Schlaganfall diskutierte Dolors gern mit ihrer Tochter über solche Dinge, alle glauben es, also ist es auch so, erklärte Teresa und breitete die Arme aus, worauf Dolors voller Ironie sagte: Natürlich, wenn alle etwas glauben, muss es einfach stimmen. Man merkt, dass du in der Politik bist, Kind, ihr tischt dem Volk alle möglichen Lügengeschichten auf, damit es euch wiederwählt. Das kommt ganz auf die Partei an, erwiderte Teresa, und da spottete Dolors noch ein bisschen mehr: Ach so, entschuldige, wie konnte ich das nur vergessen, du und deine Parteigenossen haben ja die Wahrheit für euch gepachtet.
Mit zwölf dachte Teresa natürlich noch nicht an so etwas, sie war bei ihrer Freundin und würde erst abends heimkommen. Leonor war zu der Zeit erst vier Jahre alt und deutete mit dem Finger aufgeregt auf das Riesenrad, mit dem sie fahren wollte. Und danach mit dem Flugzeug und mit allem anderen auch!, kreischte sie, dass einem die Ohren gellten. Meinetwegen, stimmte Dolors zu, doch als sie in der Schlange schon fast ganz vorne war, hörte sie hinter sich ihren Namen, drehte sich aber erst um, als sie ihn ein zweites Mal hörte. Und tatsächlich: Sie war wirklich gemeint, und als sie erkannte, wer sie da rief, bekam sie augenblicklich weiche Knie. Er trug einen kleinenSchnurrbart, und seine Haut war auch nicht mehr ganz glatt, aber er hatte noch den gleichen Blick und auch das gleiche Lächeln. Antoni, hauchte sie, und die Welt um sie herum löste sich auf. Mein Gott, wie viele Jahre ist das her, Dolors …, sagte er nach einem Moment des Schweigens. Sehr viele, antwortete sie leise. Wer ist das?, fragte da ein zartes Stimmchen, und ein Augenpaar starrte sie von unten an. Eine Freundin deines Vaters, entgegnete Antoni darauf einem Jungen von etwa sieben oder acht Jahren, und dann wollte natürlich auch Leonor wissen, wer der Mann war, und Dolors antwortete lapidar: Ein Freund deiner Mutter, was alle zum Lachen brachte. Sie stiegen in die gleiche Gondel des Riesenrades, und während die Kinder hinuntersahen, fragten sie einander mit scheinbar gleichgültiger Stimme, wie es dem anderen so ging. Sieh mal, die Mama, Maaama!, schrie da der Junge, und eine Hand winkte ihm von unten zu. Das ist meine Frau, erklärte Antoni, sie war klein und sah von weitem nett aus, außerdem war sie schwanger, ich werde noch mal Vater, hast du noch mehr Kinder? Noch eine ältere Tochter, sie ist heute bei einer Freundin. Mehr sagte Dolors nicht über Teresa, nur das. Wo arbeitest du?, fragte sie ihn dann. Ich habe einen Laden, erwiderte er lächelnd, eine Buchhandlung. Vollkommen überrascht wollte sie wissen, wo, und es stellte sich heraus, dass der Laden ganz in der Nähe ihrer Wohnung lag, sie aber noch nie dort gewesen war, denn ihre Bücher hatte sie all die Jahre immer in einer anderen Buchhandlung gekauft. Antoni zog eine Visitenkarte aus der Tasche und reichte sie ihr, komm doch mal vorbei, du bekommst auch Rabatt. Sie lächelte, und dann setzte die Gondel auch schon wieder auf dem Boden auf, sie gingen auseinanderund dachten, dass sich alles verändert hatte und keiner von beiden mehr derselbe war.
Oma, Dani und ich haben dir noch ein paar Bücher von zu Hause geholt. Dolors kommt es vor, als wäre es am Freitagnachmittag gewesen, als ihr Enkel und sein Freund oder Liebhaber oder wie immer man ihn auch bezeichnen sollte, mit ein paar Kartons voller Bücher aus Dolors’ Wohnung zurückkamen. Lesen strengt sie sehr an, aber sie vermisst ihre Bücher um sich herum, sodass Martí ihr versprochen hatte, sie ihr nach und nach zu bringen. Wie geht es Ihnen, Senyora Dolors?, fragte Dani sie, wie sympathisch der junge Mann doch ist, ein Jammer, dass es die beiden im Leben furchtbar schwer haben werden und gegen die Vorurteile von Gott und der Welt kämpfen müssen, angefangen bei Jofre, wenn der davon erfährt. Für die Welt ist es unverzeihlich, wenn jemand anders ist, denn alles, was von der Norm abweicht, macht Angst. Auf Danis Frage hin lächelte Dolors jedenfalls, was ihm signalisieren sollte, dass sie
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