Die Woll-Lust der Maria Dolors - Roman
Kindern in einem anständigen Haus lebte – Tag für Tag ein Stück vergrößern. Weg, weg, verschwinde!, schalt Dolors in Gedanken, in dem verzweifelten Versuch, an etwas anderes zu denken, wenn er ihr in den Sinn kam. Dennoch weinte sie viele Nächte lang und fragte sich immer wieder, warum habe ich das bloß getan, warum? Nur wenn sie Teresa ansah, die ihm zum Glück kein bisschen ähnelte, konnte sie sich etwas damit trösten, dass es keine größere Liebe gab als die einer Mutter zu ihrem Kind. Du hast keine Ahnung, was ich für dich alles geopfert habe, Teresa, sagt sie heute noch manchmal in Gedanken zu ihr. Und Teresa sagt dann lachend: Ab und an siehst du mich so seltsam an, Mama, seh ich irgendwie komisch aus?
Schau, wie komisch die Affen sind, meinte sie eines Tages im Zoo zu Sandra, als ihre Enkelin noch klein war. Doch statt die Tiere mit offenem Mund anzustarren, wie all die anderen Kinder das taten, begann Sandra, die Äffchen zu imitieren, und ahmte ihre Laute schließlich so perfekt nach, dass die Kinder um sie herum sich zu Sandra umdrehten und nun sie bewundernd anstarrten. Ganz ernsthaft hatte sie die Rolle eines Affen gespielt. Schon mit vier oder fünf Jahren war sie eine Schauspielerin, schon damals spielte sie Theater.
Jetzt spielt sie allerdings kein Theater. Jetzt weint sie wirklich. Arme Sandra, das einzige Drama, das du nicht selbst inszenieren kannst, ist das Drama des Lebens.
Die Armausschnitte
Viermal hat Dolors das Gestrickte nun schon auftrennen müssen. Na ja, das erste Mal, das ging auf ihre Kappe, weil sie die Anzahl der Maschen, die sie abnehmen muss, nicht richtig berechnet hat. Aber die drei anderen Male, da hat sie sich vertan, weil man sich unmöglich aufs Stricken konzentrieren kann, wenn um einen herum alle verrücktspielen. Wenn sie nicht eh schon sprachlos wäre, hätte es ihr bei dem, was an diesem Wochenende passiert ist, garantiert die Sprache verschlagen. Als Außenstehende könnte sie ja vielleicht noch lachen, da sie aber Leonors Mutter und Sandras und Martís Großmutter ist, tut es ihr furchtbar leid, dass das Familienidyll derart ins Wanken geraten ist und ein unglückliches Ende abzusehen ist, denn in dieser Familie wird es bald einen mächtigen Knall geben, lange kann das nicht mehr gut gehen.
Über ihr Strickzeug gebeugt, nimmt Dolors eine Masche nach der anderen ab und versucht, sich dabei nicht zu verzählen, denn wenn sie es nicht richtig macht, werden die Armausschnitte viel zu groß und das Vorderteil viel zu schmal. Eine zu Beginn der Hinreihe, eine am Ende direkt vor der Randmasche, sehr gut, war das wirklich erst an diesem Wochenende? Dafür garantieren kann sie nicht,sie weiß in letzter Zeit nicht mehr so genau, wann was passiert ist, ob vor ein paar Tagen, gestern oder erst vor ein paar Stunden, was sie jedoch ganz sicher weiß, ist, dass noch keiner bislang das Geheimnis der anderen kennt und sie mit Leonor allein in der Wohnung ist. Mit Leonor, die vergnügt trällert, Leonor, die sich in dieses Scheusal von Chef verliebt zu haben scheint, das ist wirklich unglaublich, Kind, wie kannst du nur?! Ach herrje, du passt schon wieder nicht auf, Dolors, nur eine Masche und nicht drei, los, trenn die Reihe noch mal auf … sonst wird es Frühling, bis du den Pullover fertig hast, und dann kann ihn die arme Sandra erst im nächsten Winter anziehen, also konzentrier dich, Dolors, und hör auf, an den ganzen Unsinn zu denken.
Doch das ist leichter gesagt als getan. Angesichts dessen, was in dieser Wohnung in letzter Zeit so vor sich geht, könnte man glatt Eintritt dafür verlangen. Dolors hätte nie gedacht, dass es in einer vermeintlich normalen Familie wie der von Leonor so viele Überraschungen geben könnte. Aber irgendwann gerät jeder mal ins Staunen, irgendwann sagt man sich, nicht zu fassen, was mir da gerade passiert. Dolors! Sie hörte es sehr wohl, doch weil es unheimlich viele Frauen mit diesem Namen gab, achtete sie nicht weiter darauf, zumal ihr Kind zum Riesenrad wollte, von dem aus die Aussicht auf Barcelona wunderschön war. In der Fabrik lief es zu jener Zeit nicht gut, sodass Eduard nicht einmal am Sonntag mit seinen Töchtern in den Vergnügungspark gehen konnte, weshalb Dolors das übernahm. An jenem Sonntag besuchte ihre Älteste eine Freundin, es gibt im Leben der Kinder eine Zeit, in der sie nichts lieber tun, und so war es auch bei Teresa. Was ein großes Glück war, dennwenn Antoni sie gesehen und erfahren hätte, dass sie
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