Die Woll-Lust der Maria Dolors - Roman
Bloß, dass sie sich bei diesen Tönen innerlich auflöste, dass etwas sich veränderte, die Wirklichkeit plötzlich an Kraft verlor und ihre Gefühle weich wurden. Ja, Gefühle, die scheinbar schon seit langer Zeit erstarrt waren, strömten zu ihr zurück, bliesen ihr eine warme Brise ins Herz, und eine Flüssigkeit, die alles durchspülte, lief schließlich zu ihren Augen heraus, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Als Martí merkte, dass sie weinte, kam er mit der Kleenex-Schachtel zu ihr und tupfte ihr zärtlich die Tränen ab, nahm sie in den Arm und bedeckte ihr runzliges Gesicht mit Küssen. Dolors wusste nicht, wie sie die Tränen aufhalten sollte, hör auf zu heulen, schalt sie sich in Gedanken, doch es war unmöglich, sie zurückzuhalten.
Wie lange hatte sie nicht mehr geweint? Bestimmt seit Antonis Tod. Sie hatte in ihrem Leben nicht viel geweint, sieht man einmal von Eduards Tod und der Sache mit Teresa ab. Selbst nachdem Maria sie erwischt hatte, hatte sie keine einzige Träne vergossen. Nicht einmal, nachdem sie zu ihr nach Hause gekommen war, um sie zu beschimpfen. Nimm dir ein paar Tage frei, hatte Antoni sie noch an diesem Abend gebeten, ich muss eine Lösung finden. Nicht einmal mehr einen Kuss gaben sie sich. Nach so vielen Jahren der geheimen Liebe hatten sie allen Grund, sich schuldig zu fühlen, was für eine Riesendummheit, welche Eselei. Ihr widert mich an, war alles, was Maria gesagt hatte, dann war sie hinausgerannt und hatte alle Türen hinter sich offen gelassen.
In jener Nacht hatte sich Dolors wie betäubt ins Bett gelegt. Zum Glück war Leonor übers Wochenende mitJofre weggefahren, denn auch den ganzen nächsten Tag blieb sie im Bett und stierte ein Loch in die Wand. Sicher würde Antoni sie nicht mehr sehen wollen und sie auf Druck seiner Frau entlassen. Sosehr er Dolors auch lieben mochte, Männer wählen letztlich immer die Bequemlichkeit und Stabilität, wenn es hart auf hart kommt. Das hatte sie bei anderen schon oft genug gesehen. Dolors hatte versucht zu weinen, doch sie konnte nicht. Vielleicht war ihr Herz versteinert. Vielleicht begann sie in jenen Stunden aber auch nur, das Leben von einer anderen Warte aus zu sehen. Irgendwie würde sie sich schon durchschlagen und eine neue Arbeit finden. An jenem Tag merkte sie zum ersten Mal, dass sie langsam alt wurde, und je älter man wird, desto distanzierter betrachtet man die Dinge, die einen in jungen Jahren furchtbar verletzt hätten.
Eigentlich geht es nur darum, mit sich selbst glücklich und zufrieden zu sein, überlegt Dolors jetzt. Und ich bin mehr als zufrieden mit mir und meinem Leben. Bis auf das mit dem perfekten Verbrechen natürlich, aber … Dolors hält mit dem Stricken einen Moment inne und richtet ihre Augen zur Zimmerdecke, um Gott, der ihr jetzt von oben herab einen spöttischen Blick zuwirft, zu sagen, aber es musste sein, ich hoffe, du verstehst das.
»Hallo, Oma. Gut siehst du aus.«
Martí kommt zu ihr und küsst sie auf die Wange. Dieser Junge wirkt gar nicht wie ein Homosexueller. Im Laufe der Zeit hat sie durch Teresa ja etliche kennengelernt, und die meisten von ihnen hatten eine ganz besondere Art, zu sprechen und sich zu bewegen. So wie Dani, der allerdings nicht so übertreibt wie manch einer von denen, die man gelegentlich im Fernsehen sieht und die wirklich lachhaftsind. Doch so war Martí nicht. Dass er sich für Mädchen nicht interessiert, hätte sie jedenfalls nie gedacht.
Ach, jetzt kommt Jofre aus dem Schlafzimmer.
»Hallo, Papa. Was machst du denn so früh zu Hause? Lieben dich deine Schüler nicht mehr?«
Upps, da ist Martí unwissentlich ins Fettnäpfchen getreten. Er bemerkt es selbst noch im gleichen Moment, Jofre sieht nicht so aus, als sollte man ihm gegenüber heute derartige Kommentare machen. Da ist ein furchtbarer Orkan im Anzug, denkt Dolors, möge der Herr seine schützende Hand über uns halten. Jofres Augen blitzen.
»Nein, warum sollten sie auch? Ich brauch das im Übrigen nicht, denn ich steh nicht auf kleine Jungs.«
Martí ist wie vom Donner gerührt, und Dolors denkt, dass Jofre einfach das Erstbeste gesagt hat, was ihm durch den Kopf ging. Sicher, Martís Bemerkung hat ihn tief verletzt, und er lechzt sowieso schon danach, etwas vom Stapel zu lassen, das sich auf die sexuelle Orientierung seines Sohnes bezieht, denn er hält sich seit Tagen bereits zurück.
Schweigen breitet sich nun im Wohnzimmer aus, die Luft ist zum Schneiden dick. Weil ihr nichts
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