Die Woll-Lust der Maria Dolors - Roman
mehr in die Kirche ging, hatte es sie am Tag von Eduards Tod in die erstbeste Kirche getrieben, ganz in der Nähe ihrer Wohnung. Und genau dort wurde nun auch das Requiem für Eduard gehalten. Rot wie eine Tomate saß Dolors in der ersten Reihe und wagte es nicht, den Priester anzuschauen, der sich sichtlich unbehaglich fühlte.
Unbehaglich, genauso fühlt sich Dolors, seit sie vor ein paar Tagen mit dem zweiten Ärmel angefangen hat. Sie fühlt sich irgendwie komisch, und ihre Hand zittert von Tag zu Tag stärker. Warum, weiß sie nicht genau.
Letztlich hat alles wieder seine Ordnung: Jofre hat keine kleine Freundin mehr, Leonor musste ihr Piercing entfernen, und Sandra packt ein paar Sachen in einen Koffer. Weshalb muss ich in diese Klinik? Ich verstehe das nicht, sagte sie erst gestern zu ihrer Großmutter. Sie wollen, dass ich esse, aber ich bin doch gar nicht so dünn, im Gegenteil, ich glaube, ich sollte noch ein paar Kilo abnehmen. Ichkenne da ein Mädchen, bei der bekommt man echt einen Schreck, aber bei mir doch nicht, stimmt’s, Oma? Auch früher schon hatte sie sich ihrer Großmutter als Klagemauer bedient, doch noch nie war sie ihr dabei so nahegekommen, sodass Dolors plötzlich fürchtete: Was mach ich, wenn sie mich fragt, was ich in der Plastiktüte habe? Aber nein, darauf achtete Sandra nicht, Sandra sieht nicht und denkt nicht, sie betrachtet sich nur im Spiegel. Und wird dabei von Martí erwischt, so wie vor ein paar Tagen, sieh genau hin, Sandra, soll ich dir sagen, wie du aussiehst? Die Beine sind am schlimmsten. Sieh sie dir an, sieh sie dir gut an, Sandra, Martí packt sie und zwingt sie, ihre Beine zu betrachten, aber Sandra sieht nicht das, was alle sehen, ihr Blick auf die Realität ist verzerrt, da, wo andere Oberschenkel haben, sieht man bei ihr nur Knochen, wie sie sich damit aufrecht halten kann, ist wirklich ein Rätsel. Diese Krankheit ist eigenartig. Doch der Arzt meint, sie könne geheilt werden. Hoffentlich, Sandra, hoffentlich.
Für den Ärmel hat sie nach und nach Maschen zunehmen müssen. Nach dem Bündchen im Rippenmuster hat sie glatt rechts weitergestrickt, in den gleichen Farben wie beim Vorder- und Rückenteil, sodass eine Linie in derselben Farbe von einem Ärmel über die Mitte hinweg zum anderen reicht, und sie hat sich dabei sehr bemüht, keinen Fehler zu machen. Ein Ärmel ist fertig, und beim zweiten fehlt auch nicht mehr viel, in den letzten Tagen hat sie unheimlich viel gestrickt, denn das mit der zitternden Hand gefällt ihr gar nicht, und sie möchte nicht, dass der Pullover aus welchem Grund auch immer nicht fertig wird.
Sie sieht Martí, der gerade hereinkommt. Er zieht nun doch nicht aus, zumindest vorerst, er will warten, bis esSandra etwas besser geht. Sicher hat er das gestern beim Abendessen gesagt. Sicher deshalb, weil Dolors, wie üblich, nicht weiß, wann etwas passiert, und den Ereignissen ein Datum verpasst, um sie auf diese Weise in ihrer Erinnerung zu ordnen, sonst wird sie noch verrückt. Sobald sie sich an etwas erinnert, sortiert sie es, vergleicht es mit den anderen Erinnerungen in ihrem Kopf, mal sehen, das mit dem, du hast die Nummer eins, du warst zuerst da … vor einer Woche, zum Beispiel. Und du, vor zwei Tagen, und du, erst gestern. Na also, es war gestern beim Abendessen, als Martí sagte, dass er noch nicht ausziehe, worauf Leonor und Sandra dankbar lächelten. Jofre allerdings gab keinen Ton von sich.
Martí zieht nicht aus, aber Dani kommt oft. Alle sehen ihn nun anders an, was ihm offensichtlich nicht entgeht, denn er wirkt, als wäre ihm unbehaglich zumute. Ich schulde Ihnen noch was, Senyora Dolors, erinnern Sie sich? Vor drei Tagen – nach Dolors’ innerem Kalender – hatte er deshalb seine Flöte mitgebracht. Als er ihr jedoch mit lauter Stimme erklären wollte, was er für sie spielen werde, meinte Martí zu ihm, schrei nicht so, sie ist nicht taub, sie hat sehr gute Ohren, nicht wahr, Oma? Das war, und das weiß Dolors noch genau, bevor Martís Freund zu spielen begann.
Er spielte drei Stücke, nur für sie. Drei gute Gründe, um diesem Wohnzimmer, ihrer Familie, diesem Pullover zu entrinnen. Sie konnte sich nicht erinnern, dass Musik je eine solche Wirkung hatte. Echte Musik, nicht das, was den lieben langen Tag in Sandras Zimmer dudelt und ihre Enkelin sicherlich vorzeitig taub machen wird. Magersüchtig und taub, das ist wirklich zu viel des Guten.
Was sie bei der Musik fühlte, kann Dolors nicht genau sagen.
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