Die Wuensche meiner Schwestern
Aubrey rubbelte sich über die Wange. »Habe ich etwa auf dem Gesicht geschlafen? Sieht man die Abdrücke?«
»Nein, es ist …« Bitty sah sie weiter unverwandt an. Aubrey widerstand dem Drang, den Blick abzuwenden. »Siehst du es auch?«, fragte Bitty Meggie.
Meggie kniff die Augen zusammen. »Ich glaube, ja.«
»Herrje, Leute«, murmelte Aubrey. Sie senkte den Blick. »Entschuldigt, das habe ich vergessen. Das ist letztes Mal auch passiert, erinnert ihr euch? Sie sind extrem hell geworden. Ich werde meine Brille holen.«
»Nein – du begreifst es nicht?«, erwiderte Bitty. »Sie sind … ganz normal . «
Aubrey schwieg. Sie spürte eine Enge in ihrem Hals, als würde sie ein Lachen unterdrücken. Vielleicht lag es nur am Licht. Irgendeine komische optische Täuschung. Vielleicht stand sie gerade im Schatten. Sie ging ins Badezimmer zurück und blickte in den Spiegel über dem kleinen Waschbecken. Sie sah ihr Gesicht, dasselbe Gesicht wie immer, in dem sich dieselben Augen wie immer befanden.
»Bist du dir auch ganz sicher, dass es dir gutgeht?«, hakte Meggie nach.
Aubrey richtete sich gerade auf. »Ich denke schon. Ich bin nur ziemlich k. o. Es war eine lange Nacht.«
Ihre Schwestern tauschten Blicke aus.
»Macht euch keine Sorgen, ihr beiden«, rief Aubrey fröhlich. »Wir haben mit der Zauberei unser Bestes gegeben. Jetzt können wir nur abwarten und sehen, was morgen bei der Abstimmung geschieht.«
»Aubrey«, unterbrach Bitty sie. »Es ist schon morgen.«
Aubrey rieb sich verschlafen die Augen und gähnte. »Ich verstehe nicht.«
»Es ist Montag«, sagte Meggie.
Aubrey ließ die Hände sinken. Ihr wurde auf einmal schwindlig, und die Strickerei schien sich unter ihr zur Seite zu neigen. »Wartet – es ist … Montag?«
»Ja«, bestätigte Meggie.
»Dann habe ich …«
»… über vierundzwanzig Stunden geschlafen«, beendete Bitty ihren Satz.
»O Gott, Montag – wie viel Uhr am Montag?«
»Mittag«, antwortete Bitty.
Aubreys Körper erwachte Zelle für Zelle zu vollem Bewusstsein. Sie hatte eine halbe Ewigkeit geschlafen. Und es gab etwas, das ihre Schwestern ihr nicht erzählen wollten, von dem sie nicht wussten, wie sie es ihr sagen sollten.
»Heißt das also?«
»Sie haben heute Morgen abgestimmt«, sagte Meggie.
Aubrey umklammerte den Rand des Waschbeckens. Sie konnte kaum atmen. »Und …?«
Meggie sah sie traurig und voller Mitgefühl an.
»Es hat nichts genutzt«, ergriff Bitty das Wort.
»Nein!« Aubrey vernahm ihre eigene Stimme, als käme sie von außen. »Das kann nicht sein. Da muss ein Fehler passiert sein. Eine falsche Auszählung. Eine fehlende Stimme. Irgendetwas.
»Es tut mir leid, Aubrey«, sagte Meggie.
Sie war viel zu schockiert, um zu weinen. Sie fühlte in sich eine Leere so groß wie das Universum. Fassungslos dachte sie an Mariah, an all die Namen im »Großen Buch im Flur«, an die vielen Kämpfe, die die Strickerei im Laufe der letzten Jahre ausgetragen hatte, die vielen Schwierigkeiten, mit denen die Hüterinnen konfrontiert worden waren, die sie jedoch entgegen aller Wahrscheinlichkeit stets gemeistert hatten. Aubrey konnte sich das Ende der Strickerei genauso wenig vorstellen wie das Ende der Welt. Immer wieder wiederholte sie in Gedanken die Worte: Der Zauber hat versagt. Der Zauber hat versagt. Sie konnte einfach nicht begreifen, was das bedeutete. Der Zauber hat versagt.
»Vielleicht ist doch noch nicht alles vorbei«, sagte Aubrey laut. »Vielleicht wird aber auch Berufung eingelegt. Oder die Stimmzettel werden noch einmal neu ausgezählt.«
»Es ist vorbei«, erwiderte Bitty. »Es ist alles vorbei.«
Es ist vorbei?, dachte Aubrey.
Sie lauschte, aber die Strickerei hatte ihr nichts zu sagen.
Aus dem Großen Buch im Flur
Kein Geschenk ist für die Ewigkeit bestimmt. Strickarbeiten sind vergänglich – Dinge, die man so lange verwendet, bis sie eben nicht mehr zu gebrauchen sind. Und jede Magie verblasst irgendwann. In gewisser Weise gleicht ein magischer Zauber weniger einem Schloss als dem Baugerüst, das dazu dient, die Steine aufzuschichten. So ist unsere größte Hoffnung beim Stricken eines Zaubers, dass seine Macht dergestalt ist, dass das Schloss noch lange stehen wird, nachdem die Maurer fort sind.
Kapitel 22
Kette ab
Bis Mitte November war die Schönheit des farbenfrohen Herbstes im Hudson-Tal verflogen. Die Blätter waren brüchig geworden wie mumifizierte Pharaonen. Der erste Schnee kam mit unerwarteter Heftigkeit, und
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