Die Wuensche meiner Schwestern
notwendig. Ihr wisst schon – ein wenig Unsinn hier und da.
Aber im Ernst, Bit und Meg, Aubrey wird in ihrer neuen Rolle als Hüterin der Strickerei Eure Unterstützung benötigen. Wenn es im Jenseits so etwas wie Sorgen gibt, dann werde ich mich vor allen Dingen um sie sorgen. Sie braucht Euch. Und wenn ich nicht ganz falsch liege, dann braucht Ihr sie auch.
Dies ist mein letzter Wille: dass Ihr Mädchen wieder zueinanderfindet und so seid, wie Ihr früher wart, hier in der Strickerei, die gar kein so schlechter Ort für eine Familie ist.
Und dies sollen meine letzten Worte an Euch sein: Ich habe Euch – jede Einzelne von Euch – so sehr geliebt. Meggie, Dich habe ich dafür geliebt, dass Du Deine Klappe aufgerissen hast und in der Lage und willens warst, zu all den vielen Personen zu werden, die ein Mensch im Laufe seines Lebens sein kann.
Bitty, Dich habe ich geliebt für Deinen starken Willen und Deine kompromisslose Hingabe an das, was Du für richtig hältst – selbst wenn es bedeutete, dass Du Deine Kinder von der Strickerei fernhieltest. Denn Du hast es gut gemeint, auch wenn am Ende nicht die Strickerei die eigentliche Gefahr darstellen wird.
Und Aubrey, Dich habe ich für Dein Pflichtbewusstsein und Dein gutes, gutes Herz geliebt. Du warst immer mein Vorbild – ich weiß, das klingt komisch, aber so war es. Mach Dir keine allzu großen Sorgen um die Strickerei. Du weißt alles, was Du wissen musst, und Du wirst es gut machen. Das »Große Buch im Flur« wird Deine Fragen beantworten, sollte es etwas geben, was ich Dir noch nicht erzählt habe. Hör auf Dein Bauchgefühl, Deine Intuition, sie wird immer richtig sein.
Ich will nur das Beste für Dich, mein Liebling, was immer das auch sein mag. Du wirst es gemeinsam mit Deinen Schwestern herausfinden. Und wenn Du die Strickerei aufgeben musst, um Dein Glück zu finden, dann ist das eben so. Aber ich setze alles darauf, dass es nicht so weit kommen wird. Ich hoffe, dass Du für die Strickerei und für Tappan Square kämpfen wirst,wie ich es getan habe. Du darfst Dich in Deinen Kämpfen niemals zufriedengeben. Vergesst nie: Ihr seid die Musikmacher, Ihr seid die Träumer der Träume.
Seid lieb zueinander. Baut Euch gegenseitig auf. Haltet die Wolle der anderen.
Wie sehr liebe ich Euch?
Eure Tante Mariah
* * *
Unter Strickerinnen gibt es ein Zeichen: die Handflächen zeigen zueinander, die Finger sind ausgestreckt, die Hände auseinander. Diese Haltung kennt jede, die einmal endlose Stunden geduldig stillgesessen und einen losen Strang Wolle gehalten hat, während eine andere sie fest aufwickelte. Natürlich lässt sich ein Strang heutzutage mit Schirmhaspel und Wollwickler ganz schnell in ein praktisches kleines Knäuel verwandeln, so dass die Fasern sich beim Stricken nicht verknoten. Aber die alte Methode – zu fragen: Hältst du das für mich? – ist ein Initiationsritus. Töchter sitzen immer noch für ihre Mütter, Mütter für ihre Großmütter, und sie alle verschreiben sich diesem spannungsreichen Zustand, in dem man den Geist zugleich schweifen lassen kann und dennoch festgenagelt ist, bis die Arme weh tun und der Kreis aus Wolle sich schwer wie ein Fassreifen anfühlt, bis der letzte Fadenrest herunterrutscht und die Aufgabe erledigt ist.
Bevor Aubrey und ihre Schwestern von der Schule genommen worden waren, war Aubrey einmal während einer Drittklässler-Aufführung von Rip Van Winkle auf der Bühne der Länge nach hingefallen – sie war auf denvielen Schichten ihres Tüllrocks ausgerutscht, als sie die Treppe hinaufgehen wollte – und wurde vom Publikum ausgelacht. Das Brennen der Scham war viel schlimmer als das ihres lila anlaufenden Schienbeins. Sie hatte die Schatten des Publikums abgesucht, bis sie Mariah gefunden hatte, die sie lächelnd ansah – und genau diese Geste machte. Wie sehr liebe ich dich? Mariah hatte ihr gesagt, dass Gott alles möglich machen könne und dass sie, wenn sie die Hände auseinanderführte, als wollte sie sagen: so groß , die ganze Welt dort halten könne, dort – in dem Raum zwischen ihren Händen.
Aubrey konnte die Tränen nicht zurückhalten. Vic nahm ein Taschentuch vom Kaminsims und reichte es ihr. Er beugte den Kopf hinunter zu ihr auf dem Sofa. »Alles in Ordnung?«
Sie tupfte sich die Wangen ab. »Ich bin … erstaunt«, antwortete sie. Dass sie außerdem verletzt war, dass Mariah Geheimnisse vor ihr gehabt hatte, erwähnte sie nicht. Er konnte es sich wahrscheinlich auch so
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