Die Wuensche meiner Schwestern
Rottöne der Bäume beruhigen sich wie eine Katze, die unter der Hand ihrer Besitzerin wohlig schnurrt. Doch diese Ruhe ist trügerisch. Denn die Stimmung einer Dämmerung am Hudson ist so friedlich – wie eine leere Leinwand –, dass sie regelmäßig Alpträume hervorruft.
Unter dem weiten Himmel spürte Bitty die düsteren Möglichkeiten des bevorstehenden Abends. Da sie keine Fragen zu ihrem abwesenden Ehemann beantworten und einen Moment für sich allein haben wollte, hatte sie ihre Kinder eine Stunde vor Beginn von Mariahs Beerdigungspicknick mit in den Park genommen. Das Ufer des Flusses war flach und niedrig. Kanadagänse dösten dort wie ein Haufen grauer Steine. Felsige Hügel trugen den Himmel in jeder Richtung auf ihren Schultern, und die Metallträger der Tappan Zee Bridge überspannten den Fluss. Der alte weiße Leuchtturm, unter dem Bitty und ihr Mann sich einst heimlich trafen, ragte hinter den Bäumen hervor.
»Mom?«
Nessa lehnte ihren Kopf im Gehen an Bittys Schulter. Sie hatte blasse, sommersprossige Haut, ihr zimtfarbenesHaar war zu einem hohen Dutt zusammengebunden. Ihren Schal – den sie letzte Woche noch unbedingt haben musste, andernfalls würde sie sterben – hatte sie zu Hause liegengelassen.
»Mom? Ich habe nachgedacht …«
»Oje, tu dir bloß nicht weh.«
Nessa lachte. »Nein, ernsthaft. Ich dachte, wir sollten vielleicht, na ja, eine Weile hierbleiben. Nicht gleich wieder zurückfahren.«
»Wie kommt’s?«
»Tante Aubrey braucht uns. Ganz ehrlich. Das spüre ich. Es ist ihre Zeit der Not . Und Carson und ich können ruhig mal ein paar Schultage verpassen. Wir haben nur gute Noten …«
Bitty warf ihr einen Blick zu.
»Na gut. Er hat gute Noten. Aber meine sind immerhin in Ordnung.«
»Wir bleiben nicht hier«, widersprach Bitty.
»Aber … wieso?«
Sie legte ihrer Tochter den Arm um die Taille. Nessa hatte nicht gefragt, ob ihr Vater zur Beerdigung kommen werde. Carson ebenso wenig. »Weil wir einfach nicht können.«
»Warum hasst du diesen Ort so sehr?«
»Ich hasse ihn nicht. Ich habe viele gute Erinnerungen an ihn.«
»Und auch viele schlechte?«
»Ein paar«, gab Bitty zu. »Deine Tante und ich waren nicht immer einer Meinung.«
»Über was?«
»Das Übliche«, erwiderte Bitty, obwohl ihre Meinungsverschiedenheiten tatsächlich überhaupt nichts Übliches betrafen. Das Problem – der chronische Streitpunkt – war die Magie. Es lief immer auf die Magie hinaus. Als sie noch zu jung war, um es besser zu wissen, hatte Bitty denSchwindel noch geglaubt – so wie sie einst glaubte, Sankt Nikolaus würde zur Weihnachtszeit durch den Schornstein steigen und Süßigkeiten in ihren Schuhen hinterlassen. Doch als ihr logisches Denkvermögen zunahm, wurde ihr klar, dass ein Mann nicht mit seinem Schlitten über den Himmel um die ganze Welt reisen konnte. Nachdem sie jahrelang in ihren Zweifeln herumgestochert und -gebohrt hatte, wie sie in den Lücken herumgestochert und -gebohrt hatte, wo ihr die Milchzähne ausgefallen waren, stellte sie schließlich fest, dass Menschen ihre Probleme nicht mit magischen Schals und Mützen lösen konnten – egal, was Mariah oder das »Große Buch im Flur« behaupten mochten. Die Magie der Strickerei bestand nur aus Schall und Rauch. Wenn die Zauber wirkten, dann nur, weil die Macht des Glaubens so überzeugend war, wie ein Placebo, das Krebs heilt oder Erkältungen verkürzt.
Sie behauptete zwar nicht, allzu viel von Wissenschaft zu verstehen, doch sie begriff zumindest, dass es nur eine Abweichung vom vorhergesagten Ergebnis – einen einzigen Fall – brauchte, um zu beweisen, dass eine Theorie vollkommen falsch war. In der Magie glaubten die Menschen eine Möglichkeit zu erkennen, das Unkontrollierbare zu kontrollieren, und wenn sie verlässlich gewesen wäre, hätte auch Bitty mit Freuden daran geglaubt. Doch letzten Endes wiegte Magie einen nur in falscher Sicherheit, war ein Griff nach einer Macht, über die Menschen nun einmal nicht verfügten, nach der sie sich aber verzweifelt sehnten. Bitty fand, es gab bessere, zuverlässigere Wege, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen, als das Stricken von Socken.
Die Strickerei war die große Peinlichkeit ihrer Jugend gewesen – selbst jetzt, als Erwachsene, hatte sie manchmal das Gefühl, dass noch ein leichter Hauch davon an ihr hing, wie ein Geruch, der sich nicht herauswaschenließ. Und wenn Bitty in schlechter Stimmung war, dann gestand sie sich ein, dass nicht nur die
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