Die Wuensche meiner Schwestern
bei den Pfadfindern?« Carson legte sich sein Kissen zurecht. »Wenn wir zelten gehen?«
»Genau«, antwortete Bitty.
»Aber irgendwoher müssen die Geschichten ja kommen«, mischte sich Nessa von ihrem Bett auf der anderen Seite des Raumes aus ein.
Bitty warf ihr einen mahnenden Blick zu. »Wenn ein Haufen Leute anfängt, über etwas zu reden, steigern sich irgendwann alle rein. Und dann ist es egal, ob es stimmt oder nicht. Erinnert ihr euch an die Geschichte von des Kaisers neuen Kleidern?«
»Halbwegs«, meinte Nessa.
»Seht ihr, es ist so, als ob all die Menschen, die den nackten Kaiser die Straße entlangstolzieren sehen, nicht nur vorgeben, ihn in seinen feinen Kleidern einherschreiten zu sehen, sondern es wirklich glauben würden. Genau das passiert in Geistergeschichten.«
Sie konnte erkennen, dass ihr Sohn noch nicht überzeugt war. Und sie konnte sich selbst noch gut daran erinnern, wie es war, sich vor dem Reiter zu fürchten.
Bitty warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie fuhr sich beim Aufstehen mit den Händen über die Oberschenkel. »Es gibt keinen Kopflosen Reiter. Und das werde ich euch beweisen. Gebt mir eine Minute Zeit.«
Sie verließ die beiden und ging durch den Flur in Mariahs Zimmer, wo sie die Regale des Bücherschranks absuchte.Mit der Erzählung von Washington Irvings Kopflosem Reiter in den Händen kehrte sie zu ihren Kindern zurück. Sie hatte vorgehabt, sie zusammenzufassen und nur das Ende vorzulesen, doch zu ihrer Überraschung wollten die Kinder die ganze Geschichte hören.
»Sie ist ziemlich lang«, warnte sie die beiden. »Nicht gerade eine Lektüre für eine kurze Aufmerksamkeitsspanne.«
»Als ob es hier eine bessere Alternative gäbe«, erwiderte Nessa.
»Bitte!«, rief Carson. »Komm schon, Mom. Bitte!«
»Na gut«, lenkte Bitty ein und lehnte sich auf Carsons Bett gegen die Wand, auf jeder Seite eines ihrer Kinder. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal zusammen eine Geschichte gelesen hatten. Es musste Jahre her sein.
Stück für Stück arbeiteten sie sich durch die alte Erzählung voran, die sich für Bitty vertraut, aber auch irgendwie neu anfühlte. Sie las ihnen von Ichabod Crane vor, dem armen, bemitleidenswerten Ichabod mit seinen schlaksigen Armen und Beinen, seiner überbordenden Phantasie, dem Aberglauben. Sie las ihnen von Katrina Van Tassel vor, der hübschen, ihre Fesseln entblößenden Koketten, bei der zu Hause der Tisch immer reich gefüllt war mit Apfel- und Pflaumenkuchen, Taubenpasteten, Mais, Ingwerkuchen, olykoeks und Spritzkuchen. Sie las ihnen von dem Aufschneider Brom Bones und dessen heimlichem Wetteifern mit Ichabod um Katrinas Gunst vor. Und schließlich kam sie zum Kopflosen Reiter – zur schaurigen Jagd durch das spukende Tal und über die berüchtigte Holzbrücke, die mit dem Kürbiswurf des Ungeheuers endete. Sie legte beim Lesen Pausen ein, geleitete ihre Kinder entlang den Wahrzeichen der Geschichte, die zum Teil noch in Tarrytown zu besichtigen waren.
Im Laufe der Jahre, vor allem in den letzten paar Jahrzehnten,hatte sich die reizende, neckische kleine Volkserzählung über Liebe und Schabernack in Tarrytown in eine ausgewachsene Horrorgeschichte verwandelt. In den neusten Filmen und Nacherzählungen hatte der Kopflose Reiter sich verselbständigt. Vollkommen unabhängig von dem Reiter aus Washington Irvings Vorstellungskraft, war er ein Monster geworden, ein Serienkiller, ein Jack the Ripper als kopfloser Geist auf einem apokalyptischen Hengst.
In Irvings Erzählung war der Reiter noch etwas ganz anderes. Als sie zu Ende gelesen hatte, fragte Bitty ihre Kinder: »Und wer, glaubt ihr, ist der Kopflose Reiter nun in Wirklichkeit?«
Sie brauchten eine Weile, um es herauszufinden, doch dann erhellte sich Carsons rundes Gesicht wie eine Glühbirne, und er rief: »Brom Bones!«
»Seht ihr?«, sagte sie und beugte sich hinunter, um die Decke über ihrem Sohn zurechtzuziehen. »Es gibt keinen Kopflosen Reiter. Das war nur ein Streich, der dem armen Ichabod gespielt wurde, um ihn von Katrina fernzuhalten. An Tarrytown ist also gar nichts Unheimliches.«
»Eigentlich wird das so nicht gesagt«, wandte Nessa ein. »Da steht nirgends, dass Brom der Reiter ist.«
»Es braucht nicht dazustehen. Man kann es sich denken«, behauptete Bitty. Dann gab sie ihren Kindern einen Kuss, ermahnte sie zu schlafen und brachte es fertig, zu lächeln, bis sie den Raum verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Was
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