Die Wuensche meiner Schwestern
sie ihnen nicht erzählt hatte, war, dass die Leute im Hudson-Tal sich schon Geschichten über den Kopflosen Reiter zugeflüstert hatten, lange bevor Irving seine Erzählung niederschrieb. Und sie hatte ihnen nichts von dem Grab erzählt, das sich angeblich auf dem alten holländischen Friedhof befand und in dem ein namenloser deutscher Soldat begraben lag – dessen Kopf von einer Kanonenkugel von seinem Körper abgetrennt worden war.
Sie wollte nicht, dass ihre Kinder auch nur von dem kleinsten Körnchen Wahrheit erfuhren, das sich hinter der fiktionalen Marktschreierei der Geschichte verbergen mochte. Denn wenn sie davon hörten, dass es den geringsten Hinweis auf Legitimität gäbe, wäre dieser wie ein einziger Tropfen Farbe in einem großen Glas Wasser – sie würden nur noch darauf achten. Und irgendwann würde sich dieser kleine Klecks Wahrheit auflösen und ausbreiten und alles verfärben, bis die lächerliche Fiktion glaubwürdig schiene. So wie es mit der »Magie« der Strickerei geschehen war.
Sie lehnte sich gegen die Tür des Zimmers, das nun ein Kinderzimmer war. In Tarrytown gab es etwas, vor dem man sich fürchten musste. Doch Bitty konnte nicht erklären, was es war. Und sie wollte es auch nicht – denn es jagte ihr mehr Angst ein als irgendeine erdachte Geschichte.
Sie ging durch den Flur in ihr eigenes Schlafzimmer und ignorierte die Gänsehaut auf ihren Armen.
* * *
Während Bitty ihren Kindern vorgelesen und Aubrey versucht hatte, nicht daran zu denken, wie Vics Ellbogen in der Feuerwache ihren Arm berührt hatte, saß Meggie in einem halbleeren Bus, der durch den Regen nach Yonkers fuhr. Hier nahm ihr altes Roller-Derby-Team, die Flying Dutchesses, an einem Wettkampf teil. Wenn Meggie in eine neue Stadt kam, stattete sie stets zuerst den dortigen Rollergirls einen Besuch ab. Sie konnte nicht immer in deren Team mitlaufen, aber sie konnte Eintrittskarten kontrollieren, Stühle aufstellen und wieder zusammenräumen und im Notfall sogar als Schiedsrichterin fungieren. Sie wusste, dass sie bei den Rollergirls immer Anschluss fand.
Sie zahlte am Einlass ihre zwölf Dollar und achtete nicht auf die Schmetterlinge in ihrem Bauch, während sie sich auf den Weg ins Innere des Stadions machte. Die großen dunklen Rippen des Dachgewölbes bogen sich über den Rollergirls, die gerade beim Aufwärmen waren. Die Menge stand unter Strom; ihr Lärm und ihre Begeisterung brachten das Blut in Meggies Adern zum Kochen. Die Menschen lachten und redeten, und die Geräusche klangen hohl in dem riesigen Raum. Sie umarmten sich zur Begrüßung. Kinder spielten Fangen oder etwas in der Art und kreischten aus voller Lunge. In all dem fröhlichen Aufruhr bewegte sich Meggie vollkommen still und unbemerkt durch die Arena, suchte sich einen Platz auf der Tribüne, zog ihre Leggings zurecht und setzte sich mit dem Gefühl, klein und unsichtbar zu sein, in angemessener Entfernung zu ihrem Nachbarn hin.
Sie strengte sich an, ihr altes Team zu erkennen, dessen Mitglieder gerade ihre Waden dehnten und die Schnürsenkel ihrer Rollschuhe festbanden. Sie kannte ein paar von ihnen, diejenigen, die nicht fortgegangen waren. Sie wusste, dass »Simone Says« Knieprobleme hatte, »Whip in Time« ungern die Kreisläuferin war und »Hard Block Life« eine autistische, von Elefanten besessene Tochter hatte. Doch sie war nicht in erster Linie zu ihrem alten Tummelplatz zurückgekehrt, um ihr ehemaliges Team wiederzusehen, sondern nur wegen einer bestimmten Person. Jemand, bei dem sie nicht sicher sein konnte, ob er sie überhaupt wiedersehen wollte.
Bevor Meggie Tarrytown verlassen hatte, war Tori Westmore – »Winged VicTori« auf der Rollschuhbahn – ihre beste Freundin in der Welt außerhalb der Strickerei gewesen. Tori war schwer zu durchschauen. Sie hatte die Jungs vor dem Schnapsladen gern dazu gedrängt, ihr ein Bier zu kaufen, doch sie ging auch sonntagmorgens in die Kirche, wo sie in der hintersten Bank saß und betete. Sieliebte düstere Schundkrimis – je retromäßiger und sexistischer, desto leidenschaftlicher sprach und lachte sie darüber; gleichzeitig verbrachte sie ihre Samstagnachmittage gern damit, durch die Kunstgalerien in Lower Manhattan zu streifen. Außerdem glaubte sie an die Magie der Strickerei – zu manchen Zeiten sogar mehr als Meggie selbst. Sie hatte sogar gelegentlich (vergeblich) versucht, ihre eigenen Zauber zu stricken. Vertrauen in Menschen hatte sie jedoch absolut nicht: Sie war zynisch
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