Die Wuensche meiner Schwestern
wie möglich. Nessa hatte ihr nicht erzählt, dass sie die Opfergaben gefunden hatte. Ihre Nichte musste herumgeschnüffelt haben. »Nur ein paar alte Sachen.«
Carson bückte sich nach einem neuen Zweig und blieb dann stehen. »Bekommt sie jetzt Ärger, weil sie in dein Zimmer gegangen ist?«
Aubrey versuchte, sich das Lachen zu verkneifen. Carson hatte es darauf abgesehen, seine große Schwester in Schwierigkeiten zu bringen. Sie musste ihn wirklich auf die Palme gebracht haben. »Ich kümmere mich darum.«
Er runzelte enttäuscht die Stirn. »Weißt du, sie schnüffelt nämlich andauernd herum. Andauernd.«
»Ach, tatsächlich?«
»Jepp«, erwiderte er fast fröhlich. »Zu Hause geht sie sogar in Moms Zimmer. So hat sie auch das mit der Scheidung herausbekommen.«
Aubrey erstarrte kurz, ein kleiner Schluckauf in ihrer gleichmäßigen Rechenbewegung, dann nahm sie ihr Tempo wieder auf. Bitty hatte nichts von Scheidung gesagt. Sie hatte überhaupt nicht viel über ihre Ehe erzählt. Aubrey hatte zwar angenommen, dass es Probleme gab, aber ihr war nicht bewusst gewesen, wie ernst die Situation war.
»Du solltest es sagen«, fuhr Carson fort. »Du solltest meiner Mom sagen, was Nessa getan hat. Sie soll nicht in Moms Zimmer gehen. Und in deins auch nicht – oder? Sie soll nicht in dein Zimmer gehen.«
»Nein, ich schätze, das sollte sie nicht«, bestätigte Aubrey, hörte mit dem Harken auf, lehnte sich gegen den Stiel, und blickte auf den Fluss in der Ferne. Nessa hätte nicht herumstöbern sollen, nicht, wenn Bitty die Geheimnisse der Strickerei von ihrer Tochter fernhalten wollte. Es musste unterbunden werden.
Aber Nessas Schnüffelei war das geringere Problem, ein kurzer Regenschauer an einem sonnigen Tag. Bittys Scheidung, wenn es dazu kam, war dagegen ein Sturm. Wenn es darum ging, ihrer Schwester zu helfen, halfen offene Worte leider nicht weiter. Man musste sich immer indirekt herantasten, unbeholfen voranstolpern oder sich mit gespielter Unschuld und ohne Augenkontakt annähern wie einem knurrenden Hund. Bitty unterschied nicht zwischenmitfühlenden Fragen und einem kritischen Verhör unter Zwang.
»Wo soll ich die hintun?« Carson unterbrach ihre Gedanken. Er hielt ein Bündel Zweige im Arm. Sie deutete auf den Rand des Gartens. Er ging in die angezeigte Richtung und ließ seine Ladung fallen.
»Das waren alle Stöckchen«, erklärte er. Aubrey hörte, wie sich die Fliegengittertür öffnete, und dann stand Bitty vor ihnen – wach, angezogen, geduscht – und sah in ihren dunklen Jeans und dem babyrosa Fleecepullover frisch und tadellos aus. »Was wollt ihr frühstücken?«
»Pfannkuchen!«, rief Carson. Er rannte auf seine Mutter zu und griff ihre Hände, zog daran und hüpfte auf und ab. »Pfann-Pfann-Pfannkuchen!«
»Ich nehme das Gleiche«, sagte Aubrey.
»Gebt mir zehn Minuten.« Bitty zog Carson die Mütze fester über die Ohren und verschwand im Haus.
»Zehn Minuten? Dann beeilen wir uns besser«, meinte Carson.
Aubrey musste für den Bruchteil einer Sekunde woandershin geschaut haben, denn als sie wieder zu ihm sah, rannte er und schrie: »Attacke!« Einen Augenblick später war er hüfthoch im Laub verschwunden. Er griff hinein und warf die Blätter mit beiden Armen in die Luft; ein paar trockene schwebten sanft wie Papierschnipsel im Sonnenschein, andere plumpsten gleich wieder herunter und legten sich flach und feucht auf Carsons Mütze und Jacke.
Aubrey lachte.
»Blätterkampf!« Carson warf eine Handvoll Laub nach ihr, das nicht besonders weit flog. Aubrey hob trotzdem schützend die Hände und kreischte. Falls sie gezögert, auch nur kurz innegehalten hatte, dann dauerte diese Pause nicht länger, als die Sonne brauchte, um unmerklich am Himmel vorzurücken, oder die Erde, um ihr GesichtHunderte Kilometer tiefer dem Herbst zuzuwenden. Aubrey ließ den Rechen fallen und stürzte sich in den kleinen Blätterhaufen, in das Lausbubengelächter ihres Neffen, in jegliches Glück, das der Tag ihr bringen mochte, ohne es zu hinterfragen.
* * *
Meggie stand mit einer Häkeldecke mit Fischgrätenmuster über den Schultern und einer dampfenden Tasse Kaffee in der Hand in der Strickstube. Der alte Kohleofen der Strickerei war umgebaut worden, so dass darin nun Öl verbrannt wurde, doch obwohl er sich mächtig ins Zeug legte, seine Rohre an den Verbindungsstellen klapperten und die Heizkörper vor Anstrengung zischten, war die alte Heizanlage der Kälte eines Herbstmorgens nicht
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