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Die Wuensche meiner Schwestern

Die Wuensche meiner Schwestern

Titel: Die Wuensche meiner Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa van Allen
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zuverlässige Anhaltspunkte in einer neuen Stadt ankam, nahm sie ein Foto ihrer Mutter mit und zeigte es den Leuten, wenn sie sich an einem Imbiss ein Sandwich kaufte oder in einen Bus stieg. Sie zeigte es älteren Damen in der Kirche und Männern mittleren Alters in Bars. Sie zeigte es Polizistenund Obdachlosen. Sie erklärte, dass das Foto siebzehn Jahre alt war und ihre Mutter heute wahrscheinlich anders aussah. Manchmal schwor ein Fremder, sie wiederzuerkennen. Ein paar Leute hatten ihr tatsächlich Geschichten über Lila erzählt – alte Geschichten, die aus der Zeit stammen mussten, bevor sie endgültig verschwunden war. Die meisten sagten jedoch einfach nein.
    Trotz ihrer endlosen Suche sah Meggie das Gesicht ihrer Mutter ständig. Sie sah es in Frauen, die Parfüm kauften. In Frauen, die mit ihren Hunden spazieren gingen. Sie sah ihre Mutter in Supermärkten und Bars und in der Abgeschiedenheit ihrer Träume. Manchmal lag ihre Mutter in einer Kiste im Rumpf eines Frachtschiffs. Manchmal war sie in einem nebligen Wald an einen Baum gekettet. Manchmal befand sie sich in einer Gefängniszelle oder im Kofferraum eines Wagens. Und manchmal schien sie gar nicht an einem bestimmten Ort gefangen zu sein, sondern in ihrem eigenen Schädel, aus dem ihre Augen voller Todesangst herausblickten und um Rettung baten. Das war der schlimmste Traum von allen.
    Wenn sie diesen Traum hatte, brach Meggie stets bald wieder auf, folgte neuen Spuren, Vermutungen und Launen. In jeder Stadt war es dasselbe gewesen: die aufkommende Hoffnung, die Enttäuschung und schließlich die Weiterreise.
    »Woran denkst du?«, fragte Tori. »Bist du gedanklich schon wieder verschwunden? Wo bist du gerade? Mexiko? In den Everglades? Yosemite?«
    Meggie schüttelte den Kopf. »Ich bin nirgendwo. Ich bin hier bei dir.«
    Tori neigte skeptisch den Kopf.
    Meggie trank den letzten Schluck ihres Biers und knallte das Glas mit einem dumpfen Schlag auf den Tisch. »Komm, lass uns tanzen«, forderte sie Tori auf.
    Aus dem Großen Buch im Flur
    Stricken erlebt man nicht immer als glückselige Hingabe. Manchmal ist es schmerzhaft und nervenaufreibend. Irgendwann einmal strickst du etwa ein Kleidungsstück mit fünfzehn Maschen in einer Reihe – vielleicht etwas aus Spitze mit komplizierten Löchern und Zu- und Abnehmen –, und plötzlich stellst du fest, dass du nur vierzehn Maschen hast.
    Wohin ist die fehlende Masche verschwunden? Und wie sollst du nun weitermachen? Eine neue Masche stricken und dich nicht länger um die alte kümmern – womit du riskierst, dass später alles auseinanderfällt? Oder zurückgehen und herausfinden, an welcher Stelle die Masche verschwunden ist, womit du wertvolle Zeit darauf verwendest, deine harte Arbeit zunichtezumachen, ohne zu wissen, seit wann die Masche fehlt?
    Stricken übt einen darin, Dinge zu erfahren. Und genauso wie körperliches Training kann auch diese Erfahrung unangenehm sein. Erst das Ergebnis am Ende macht all die Mühen lohnenswert.

Kapitel 12
    Strick das Muster weiter
    Es war dunkel, doch die Vögel, die noch nicht über den Winter in den Süden geflogen waren, begannen schon zu zwitschern. Aubrey lag im Bett, und ihre Gedanken trugen sie in tausend unerwartete Richtungen davon. Noch am Tag vor Mariahs Tod war sie sich beim Blick in ihre Zukunft, in den langen, teleskopartigen Tunnel ihrer Phantasie, sicher gewesen, ihr Schicksal ganz klar vor sich zu sehen, wie ein Boot am Horizont. Romantik hatte sie in ihre Planung nicht einbezogen; tatsächlich hatte sie die Liebe nach frühen, vergeblichen Versuchen auf dem Gebiet der Balzrituale standhaft und energisch aus ihrer Prognose ausgeschlossen. Doch am vorigen Abend, in der stickigen Wärme von Vics Transporter, hatte die vorhergesagte Geschichte ihres Lebens, die Aubrey gehegt und gepflegt hatte wie eine verwöhnte Hauspflanze, plötzlich begonnen, unerwartete Früchte zu tragen. Und dies verschlug Aubrey ebenso sehr den Atem, als hätte Vic ein Schmuckkästchen aus der Tasche gezogen und ihr einen Antrag gemacht.
    Sie war berauscht vor Zuversicht, euphorisch und dumm, wegen einer so kleinen Sache wie eines Dates. Die Erwartung hatte ihr den Schlaf geraubt, und sie hatte wie ein Schulmädchen in ihr Kissen gegrinst, ihr ganzer Körper so angespannt und albern wie Amors Bogen. Die ganze Nacht hindurch hatte sie mit ihrer Hoffnung gerungenund versucht, sie zu unterwerfen, sich in Erinnerung zu rufen, dass ihre Zukunft vorherbestimmt war – ein Leben

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