Die Wuensche meiner Schwestern
gewachsen. Im Winter hatten sie selten genug Geld gehabt, um mehr als ein Zimmer des riesigen, zugigen Hauses zu heizen. Meggie erinnerte sich daran, wie sie morgens aufwachte und das Haus so kalt war, dass sie beinahe ihren Atem sehen konnte, und ihre Nasenspitze, die aus dem halben Dutzend Decken über ihr herausgeschaut hatte, fast eingefroren war. Sie hatte dann die Decken mit einer einzigen Bewegung erbarmungslos von sich geworfen, um, so schnell sie konnte, in die Küche zu flitzen, wo Mariah lesend oder strickend am Tisch saß. Alte Baumwolldecken waren über die Türen und Fenster gehängt, so dass das Zimmer einer von Kindern gebauten Spielfestung glich. Die vier Flammen des Gasherds sahen aus wie vier blaue Lotusblumen, mit Blütenblättern aus Hitze. Und während ihren Schwestern in dieser Enge die Decke auf den Kopf fiel, genoss Meggie die erzwungene Gesellschaft und dass sie alle zusammen sein und reden, stricken, lesen, sich irgendwie die Zeit vertreiben mussten, wenn sie es warm haben wollten.
Meggie zog sich die Decke fester um die Schultern. Sie war ein bisschen verkatert. Bitty hatte Kaffee gekocht, und sie hätte wahrscheinlich in der Küche bleiben und ihrer Schwester Gesellschaft leisten sollen, während diese das Frühstück zubereitete. Doch sie musste dringend außer Hörweite gelangen. Das Klappern der Pfannen und das Klirren von Besteck auf Porzellan … jedes Geräusch schlug ihr gegen den Schädel wie ein Hammer gegen eine Glocke.
Am Abend zuvor waren sie und Tori lange unterwegs gewesen, ganz wie früher. Sie hatten sich beieinander eingehakt, waren durch die hell erleuchteten Straßen im East Village geschlendert, hatten mit Fremden genauso wie miteinander gelacht und getrunken, bis sich der Beton unter ihren Füßen gewölbt und gesenkt hatte. Es war, als hätte sich nichts verändert.
Sie hob den Arm, und die Häkeldecke gab den Blick auf ihre Haut frei. Toris Handynummer stand mit kräftigen Strichen in blauer Tinte auf ihr Handgelenk geschrieben. Beim Abschied hatte Tori geklungen, als würden sie sich nie wiedersehen. Sie hatte Meggie über das kurze Haar gestrichen, traurig gelächelt und sie vorm Tor der Strickerei stehenlassen. Zuvor hatte sie Meggie schwören lassen, sie irgendwann anzurufen. Meggie hatte sich einverstanden erklärt; so viel konnte sie versprechen. Doch sie wusste nicht, wie lange sie noch in Tarrytown bleiben würde.
Sie durchschritt die kalte Strickstube und stellte sich in ein langgezogenes Rechteck aus Licht, das durchs Fenster hereinfiel. In der Strickstube fühlte sie sich wie in einer Blase, in der die Zeit stehengeblieben war. Wolle, die sich bereits vor zehn Jahren in einem alten Fass gestapelt hatte, lag dort immer noch unberührt. Die klapprige Garnwinde stand immer noch am Rand der Ladentheke. Die Staubschicht im Laden war über die Jahre dicker geworden, wie ein alter Baum, der einen weiteren Ring bekam.
Meggie nahm einen Strang dunkelblaue Wolle in dieHand, und sofort überkam sie ein Gefühl von Nostalgie, so schwermütig wie das ferne Signal eines Zuges an einem regnerischen Tag. Sie strickte unterwegs oft etwas – keine Zauber, sondern kleine Arbeiten: Geschenke oder Dinge, die sie online verkaufen konnte. Sie strickte, weil es sie an ihre Familie erinnerte, weil es sie ablenkte und aus tieferen Gründen, die sie nicht kannte. Der Drang, zu stricken, überfiel sie wie ein Monster – ein geisteskranker Mr. Hyde mit Nadeln und Sockengarn –, über das sie keine Kontrolle hatte. Egal, in welcher Stadt sie sich befand, sie besorgte sich früher oder später neue Vorräte, schob der Verkäuferin ihre zerknitterten Geldscheine hin – es störte sie nicht einmal, wenn die Wolle sich wie eine Paketschnur anfühlte – und eilte an den Ort, den sie gerade ihr Zuhause nannte und wo sie erst Erleichterung empfand, wenn sie die Maschen abfeuerte, als würde sie sich Dopamin direkt ins Hirn spritzen.
Danach verschwand der Drang, zu stricken, genauso schnell wieder, wie er gekommen war. Wochen vergingen, in denen sie so viel Interesse an ihren Stricknadeln zeigte wie an ihrer Steuererklärung. Sie konnte der Handarbeit dann überhaupt nichts mehr abgewinnen.
Dieses Hin und Her – Gleichgültigkeit, die sich in Liebe und wieder zurück in Gleichgültigkeit verwandelte – ließ sie darüber spekulieren, ob die Macht, die ihre Familie und die Strickerei über sie ausübten, wie die des Mondes über die Erde war. Sie zerrte genauso ungleichmäßig an
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